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Vereinigtes KönigreichMedizintechnik / Wege aus der Coronakrise
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Hohe Investitionen lassen den britischen Medizintechnikmarkt in den nächsten Jahren wachsen. Die neue Zollgrenze und der nationale Gesundheitsdienst erschweren den Marktzugang.
23.09.2021
Von Marc Lehnfeld | London
Im Brennglas der Coronakrise haben sich sowohl die Schwächen als auch die Stärken des britischen Gesundheitssystems gezeigt. Zum einen profitieren die öffentlichen Gesundheitsakteure von einem staatlichen Investitionsprogramm in neue Krankenhäuser. Andererseits stärken lange Wartelisten der Krankenhäuser auch die Rolle der privaten Gesundheitsdienstleister. Trotz gestiegener Markteintrittsbarrieren durch die Zollgrenze post-Brexit und das neue Regulierungsregime wächst der britische Medizintechnikmarkt und damit unter dem Strich auch die Absatzmöglichkeiten deutscher Hersteller. Hinzu kommt: Der britische Medizintechnikmarkt ist nicht nur der drittgrößter Absatzmarkt Europas, sondern auch der sechstgrößte der Welt.
Markttreiber | Markthemmnisse |
---|---|
Lange Wartelisten und Fachkräftemangel treiben Nachfrage nach effizienten Behandlungsmöglichkeiten an | Neues Regulierungsregime UKCA und Registrierungspflichten erhöhen Markteintrittsbarrieren |
Krankenhausinvestitionsprogramm fördert Medizintechnikbeschaffungen | Zollgrenze erschwert Markteintritt für Exporteure |
Expansion privater Gesundheitsdienstleister | Hohe Konkurrenz durch Präsenz internationaler Akteure |
Starke Nachfrage nach digitalen Lösungen im öffentlichen Gesundheitssystem und im Bereich consumer health | Dezentrale und unübersichtliche Beschaffungsstrukturen |
Für den Zeitraum zwischen 2021 und 2025 erwarten die Analysten von Fitch Solutions ein jahresdurchschnittliches Wachstum auf Pfundbasis von 4,5 Prozent. Für 2021 schätzen die Fitch-Analysten das Marktvolumen auf umgerechnet rund 10,8 Milliarden Euro. Das größte Marktsegment, die Verbrauchsgüter (Bandagen, Katheter, Nahtversorgung, usw.), wird im Schnitt um 3,8 Prozent wachsen. Den stärksten Zuwachs erfahren Transfusionsapparate (11 Prozent), Krankenhausmöbel (6,6 Prozent) und Rollstühle (6,4 Prozent).
Einer der bedeutendsten Markttreiber ist das umgerechnet rund 4,3 Milliarden Euro schwere Investitionsprogramm der britischen Regierung für staatliche Krankenhäuser (New Hospital Programme, NHP), das schon vor der Coronakrise verkündet wurde. Bis 2030 sollen 48 Krankenhäuser neu gebaut oder erweitert werden. Im Januar verkündete die Regierung zum Beispiel Mittel in Höhe von etwa 78,2 Millionen Euro in ein neues Traumazentrum für das Salford Royal Krankenhaus. Eine Übersicht mit allen ausgewählten Projekten enthält diese Pressemitteilung.
Das New Hospital Programme ist Teil eines umfassenderen Plans zur Modernisierung des britischen Gesundheitssystems (Health Infrastructure Plan, HIP). Investitionen fließen auch in die Krankenhausausrüstung. Ein weiterer Investitionsschwerpunkt ist die Verbesserung der Screening- und Diagnostikkapazitäten im Königreich, wofür die Regierung Mittel in Höhe von umgerechnet rund 247 Millionen Euro bereitstellt. Bis 2028 sollen so Dreiviertel aller Krebserkrankungen bereits in der Frühphase erkannt werden.
Segment | in Mio. Euro*) | Anteil in % | Angaben pro Kopf in Euro*) |
---|---|---|---|
Verbrauchsmaterialien | 3.333,3 | 29,2 | 49,1 |
Diagnostische Bildgebung | 2.141,4 | 18,8 | 31,6 |
Zahnmedizinische Instrumente | 414,1 | 3,6 | 6,1 |
Orthopädietechnik, Prothesen | 856,9 | 7,5 | 12,6 |
Medizinische Hilfsmittel | 2.009,7 | 17,6 | 29,6 |
Sonstige | 2.654,7 | 23,3 | 39,1 |
Insgesamt | 11.410,1 | 100,0 | 168,0 |
Trotz der hohen Investitionen steht das öffentliche Gesundheitssystem vor einer Mammutaufgabe. Schon vor Ausbruch der Coronapandemie kämpfte der staatliche National Health Service (NHS) mit knappen Kapazitäten und einer hohen Behandlungsnachfrage in Krankenhäusern. Die Folge: Lange Wartelisten, die durch die Zusatzbelastung der Coronakrise regelrecht explodiert sind.
Im Juni 2021 wartete die Rekordzahl von 5,45 Millionen Patienten auf Behandlungen, wie beispielsweise Hüftoperationen. Auch wenn die Zahl derjenigen, die mehr als 18 Wochen auf eine Behandlung warten, leicht auf 1,7 Millionen Patienten zurückgegangen ist, schätzt das IFS, dass die Warteliste weiter signifikant steigen wird.
Verschärft wird die Krise durch einen ausgeprägten Fachkräftemangel. Beklagt werden niedrige Gehälter, eine gesunkene Attraktivität des Pflegeberufs angesichts der enormen Belastungen während der Pandemie, die Abwanderung von Fachkräften und die Hürde durch post-Brexit-Einwanderungsregeln. Mehr denn je ist der öffentliche Gesundheitsdienst unter Druck, effiziente Behandlungsmethoden zu nutzen. Entlastend wirkt das fortschrittliche E-Health-System der Briten, das in der Coronakrise einen Boom erlebte und in Zukunft weiter ausgebaut wird, wie dieses GTAI-Special zusammenfasst.
Projekt | Investitionssumme *) | Anmerkung |
---|---|---|
759 | Bau eines neuen Krankenhauses für Erwachsene sowie eines Kinderkrankenhauses. Bauvorarbeiten begannen Ende 2020 | |
NHS Epsom and St Helier Hospital, Sutton im Großraum London | 584 | Bau eines neuen Krankenhauses. Geplanter Baustart: Frühjahr 2022 |
NHS Monklands University Hospital, Wester Moffat, Lanarkshire, Schottland | 409 | Bau eines neuen Lehrkrankenhauses. Geplanter Baustart: 2023 |
NHS Moorfields Eye Hospital, St Pancras in London | 409 | Neubau einer Klinik für Augenheilkunde soll gegenwärtige Einrichtung ersetzen. Geplanter Baustart: 2023 |
NHS Addenbrookes Cancer Research Hospital, Cambridge | 257 | Im Planungsstadium. Neues Spezialkrankenhaus für Krebsforschung |
NHS Cambridge Children´s Hospital, Biomedical Campus in Cambridge | 233 | Im Planungsstadium. Bau eines neuen Kinderkrankenhauses in Cambridge. Geplanter Baustart: April 2023 |
NHS Women´s and Children´s Centre, Treliske bei Truro in Cornwall | 117 | Im Planungsstadium. Neues Behandlungszentrum für Frauen und Kinder |
Angesichts langer Wartelisten und bestehender Engpässe im öffentlichen System wächst die Bedeutung privater Gesundheitsdienstleister. Zu den größten privaten Anbietern gehören BMI Healthcare (51 Krankenhäuser), Spire Healthcare (39), Nuttfield Health (31) und Ramsay Health Care (30). Auch die deutsche Unternehmensgruppe Schön Klinik ist auf der britischen Insel tätig. In der Coronakrise haben private Anbieter das Kapazitätsdefizit des NHS mit zusätzlichen Betten und Personal zum Selbstkostenpreis ausgeglichen. Damit konnten die privaten Anbieter auch ihren Behandlungseinbruch kompensieren. Die Interessen der privaten Gesundheitsdienstleister werden vom Independent Healthcare Providers Network (IHPN) vertreten.
Trotz großer Marktchancen müssen Neulinge im britischen Medizintechnikmarkt mit stark dezentralen Beschaffungsstrukturen der öffentlichen Gesundheitsdienstleister rechnen. Allein im Landesteil England bestimmen rund 150 regionale Clinical Commission Groups den lokalen Versorgungsbedarf und beschaffen die Behandlungsdienstleistungen ebenfalls lokal, zum Beispiel bei öffentlichen NHS Trusts, aber auch private Gesundheitsdienstleistern, die im öffentlichen Segment einen Marktanteil von rund 7 Prozent ausmachen. Beim Medizintechnikvertrieb an private Anbieter profitieren Verkäufer hingegen von den schlankeren Beschaffungsprozessen.
Indikator | Wert |
---|---|
Einwohnerzahl (Mitte 2020 in Mio.)1) | 67,1 |
Bevölkerungswachstum (Mitte 2020 in % p.a.) | 0,5 |
Altersstruktur der Bevölkerung (Mitte 2020)1) | |
Anteil der unter 19-Jährigen (in %) | 23,4 |
Anteil der 20 bis 59-Jährigen | 52,3 |
Anteil der 60 bis 80-Jährigen und über | 24,4 |
Durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt (2017-2019) | Männer: 79,4; Frauen: 83,1 |
Durchschnittseinkommen (2020, £, brutto Wochenlohn, Jahresdurchschnitt) | 547 |
Gesundheitsausgaben pro Kopf (2019/Euro) | 3.840 |
Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP (2019 in %) | 10,2 |
Ärzte/100.000 Einwohner (2020) 1) | 303 |
Zahnärzte/100.000 Einwohner (2020) 1) | 54 |
Krankenhausbetten/100.000 Einwohner (2020), davon 1) | |
privat | k.A. |
öffentlich | 242 |
Im öffentlichen Gesundheitssystem werden Beschaffungsprozesse teilweise über NHS Supply Chain gebündelt, der nach eigener Auskunft 226 NHS Trusts beliefert und auf einen Marktanteil von über 60 Prozent kommt. Das Beschaffungsvolumen von NHS Supply Chain beträgt rund 2,3 Milliarden Euro und wird über rund 800 Zulieferer abgewickelt. Für Dienstleistungen gibt es mit NHS Shared Business Services eine ähnliche Organisation. Bei der Beschaffung von IT wird teilweise auf vorqualifizierte Zulieferer zurückgegriffen. Der britische Verband SEHTA informiert über den britischen Markt, zum Beispiel in seinem Guide "Accessing the NHS", und bietet mit zahlreichen Veranstaltungen eine Plattform für den Netzwerkaufbau. Zu den ersten Anlaufstellen gehören auch die landesweiten Academic Health Science Networks (AHSN).
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