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Harri Santamala, Chief Executive Officer des Start-ups Sensible 4, berichtet über die Perspektiven eines finnischen Start-ups auf den weltweiten Automobilmärkten.
07.08.2020
Von Dominik Vorhölter | Bonn
Passanten in Pasila, einem Wohn-, Geschäfts- und Büroviertel im Norden der finnischen Hauptstadt Helsinki, können im Sommer 2020 in die Zukunft des öffentlichen Nahverkehrs blicken. Dort verkehrt auf einer definierten Route ein selbstfahrender Minibus, der mit einer Geschwindigkeit von 29 Kilometern pro Stunde Personen transportiert.
Das futuristische Fahrzeug, das auf den Namen „Gacha“ getauft wurde, ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen Sensible 4 und dem japanischen Design-Konzern Muji. Das finnische Tech-Start-up Sensible 4 hat die Steuerungssoftware entwickelt. Es handelt sich dabei um eine sogenannte Full-Stack-Software - also Frontend und Backend - für autonome Fahrzeuge.
Der Gacha kann pro Fahrt bis zu neun Passagiere befördern. Er fährt auf Strecken, auf denen die Verkehrsbetriebe von Helsinki, HKL, keine Busse oder Straßenbahnen einsetzen.
Herr Santamala, in Pasila fahren jetzt die ersten Fahrzeuge mit Ihrer Smart-Mobility-Technologie. Sind die wirklich komplett ohne Person am Steuer im Einsatz?
Bei uns gilt das Motto „Safety First“. Gacha gehörte zu einer Serie von Testfahrzeugen, die wir mit unserer Software ausgestattet hatten. Wir haben jeweils über einen Zeitraum von fünf Wochen Tests durchgeführt - zu jeder Jahreszeit. Bisher entwickeln wir Systeme, die von Menschen kontrolliert werden können. Sie sind vergleichbar mit Aufzugtechnik oder mit Straßenbahnen, die vor einem Hindernis stehen bleiben. Diese Systeme werden auf letzter Ebene auch noch menschlich gesteuert. Das liegt an der Gesetzgebung hier in Finnland. Menschen müssen noch in diese Systeme eingreifen und selbst Entscheidungen treffen können.
Was macht Sensible 4?
Wir sind eine Software-Firma, die Lösungen für Automobilhersteller anbietet. Unsere Kunden sind Fahrzeughersteller. Da Finnland keine eigene Kfz-Industrie hat, suchen wir unsere Kunden im Ausland. Wir bieten Komponenten und die Entwicklung von Komponenten für Smart Mobility, aber auch Lösungen für ein vollwertiges autonomes Fahrsystem an.
Inwieweit beeinträchtigt das Coronavirus gerade Ihr Geschäft?
Wir befinden uns in einer Wachstumsphase und möchten bald andere Märkte erobern. Im Moment ist das sehr schwierig, weil wir reisen müssen, um unsere Kunden zu erreichen. Wir besuchen zum Beispiel Veranstaltungen, auf denen wir unsere Produkte vorstellen. Auf diese Weise erreichen wir potenzielle Kunden am besten. Gleichzeitig können wir mögliche Geschäftsbeziehungen direkt ausloten. Derzeit sind wir dabei, eine Marketingabteilung aufzubauen, die sich um Inbound kümmert.
Finnland hat keine große Automobilindustrie, anders als Deutschland. Ist das ein Nachteil, wenn es darum geht, in der Branche erfolgreich zu sein?
Dass wir keine Automobilindustrie in Finnland haben, muss aber nicht heißen, dass wir hier keine Aufträge bekommen können. Wir stehen durchaus im Wettbewerb mit anderen Softwareentwicklern. Wir haben alle Ressourcen: Fachkräfte, das Know-how, eine technikbegeisterte Gesellschaft und Förderung vom Staat.
In Deutschland hat Tesla eine Investition angekündigt. Es gibt also gerade viel Bewegung in der Autobranche. Was denken Sie, sind deutsche und andere europäische Firmen schon bereit für Smart Mobility?
Auf unseren Märkten sind sich die meisten Firmen bewusst, dass sie in Smart Mobility investieren müssen. Besonders wenn große Player wie Tesla eine Investition ankündigen, wissen alle anderen in der Branche, dass es Zeit ist, sich selbst zu bewegen. Einige Unternehmen sind aber noch nicht flexibel genug. Sie stecken in alten Strukturen und Traditionen fest. Der Wettbewerbsdruck steigt natürlich. Besonders in der Automobilindustrie gewinnt Software einen immer größeren Stellenwert.
Sind der Wettbewerbsdruck und der Trend zu Smart Mobility nicht ein Vorteil, den Sie für sich nutzen können?
Es geht auch darum, dass mit der zunehmenden Digitalisierung viele Firmen fürchten, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben. Das erfahren wir immer wieder, weil wir sehr eng mit unseren Kunden zusammenarbeiten.
Jetzt hat Ihr Start-up sich weiterentwickelt. Wie bewerten Sie den Standort Finnland für die Branche Smart Mobility?
Hier in Finnland kennen wir einander alle in unserem Bereich. Es gibt enge Kreise im intelligenten Transportsektor. Wir sind ein Start-up mit 70 Mitarbeitern. Die Wege sind kurz und alle Akteure sind schnell miteinander vernetzt.
Ist für Ihre intelligenten Transportsysteme eine besondere Infrastruktur nötig?
Eigentlich nicht. Wir benötigen für unsere Software eine Mobilfunkabdeckung, am besten ist 5G. Es geht aber auch ohne eine GPS-Verbindung. Weitere, größere Entwicklungen benötigen noch mehr, wie etwa eine digitale Karte und einen Standard, der die verschiedenen Systeme miteinander kooperieren lässt. Dies funktioniert bereits. Wir wissen das zum Beispiel von automatischen Systemen, die in der Industrie eingesetzt werden. Hier greifen wir auf Erfahrungswerte zurück, etwa wie Application Programming Interface (API) programmiert oder eingerichtet werden und so weiter.
Wie sehen Sie die Entwicklung Ihrer Firma in den kommenden fünf Jahren?
In fünf Jahren wollen wir zu einem Full-Stock-Supplier im Transportwesen werden. Wir wollen auch keine Firma mehr sein, die nur testet. Darum sind wir sehr kritisch gegenüber Geschäftsanfragen geworden. Nach wie vor wollen viele Firmen noch Research & Development (R&D) machen, wir sind aber schon einen Schritt weiter. Das nächste Projekt wird sein, eine Flotte von selbstfahrenden Bussen auszurüsten. Die Vorteile eines solchen Systems bestehen darin, dass es zum Teil schneller als ein Mensch reagieren kann, weil es seine Umgebung rund um das gesamte Fahrzeug über Sensoren und Kameras im Blick hat. Es gibt also keinen toten Winkel mehr.
Herr Santamala, herzlichen Dank für dieses Gespräch!