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Branchenbericht | Russland | Energie- und Umwelttechnik
Russland investiert bis 2035 Milliarden in den Ausbau des Nördlichen Seewegs als Handelsroute. Bei Energie-, Umwelt- und Schiffbauprojekten können deutsche Firmen zum Zuge kommen.
02.09.2020
Von Hans-Jürgen Wittmann | Moskau
Russland möchte bei der Entwicklung des Nördlichen Seewegs auch ausländische Partner ins Boot holen. Potenzial zur Zusammenarbeit bietet sich bei der Errichtung von Energieinfrastruktur, beim Umweltschutz sowie bei Schiffbau und Navigation. Ein wichtiges Entscheidungsgremium ist der „Gesellschaftliche Rat für die Entwicklung des Nördlichen Seewegs“. Welche Pläne dort diskutiert werden und wie deutsche Firmen an diesem Megaprojekt teilhaben können, erklärt Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschuss-Osteuropavereins der Deutschen Wirtschaft (OAOEV).
1. Herr Harms, Sie sind seit 2019 Mitglied im „Gesellschaftlichen Rat für die Entwicklung des Nördlichen Seewegs“. Wer sitzt in diesem Gremium und was sind seine Aufgaben?
In dem Beirat sind zum einen wichtige Stakeholder des Projekts versammelt. Da ist an erster Stelle die Betreiberfirma Rosatom, die die Eisbrecherflotte baut, unter ihrem Generaldirektor Alexej Lichatschjow zu nennen. Daneben die russische Reederei Sowkomflot, die den Schiffsverkehr auf der Route organisiert, unter Leitung von Generaldirektor Sergej Frank. Daneben sind viele Experten in dem Gremium vertreten, darunter Vertreter von russischen und internationalen Schiffunternehmen, Energiefirmen, Reedern, sowie Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen und politische Entscheidungsträger.
Aufgabe des Beirats ist es, dieses Projekt - die Schaffung eines global konkurrenzfähigen Transportkorridors - in den unterschiedlichsten Aspekten voranzutreiben und einen breit gefächerten fachlichen Austausch zwischen den Mitgliedern zu ermöglichen.
2. Warum wurden Sie als Vertreter eines deutschen Wirtschaftsverbandes in den Beirat berufen? Steht Russland einer Zusammenarbeit mit deutschen Firmen vorbehaltlos gegenüber?
Ja, definitiv, die russische Seite ist äußerst interessiert daran, deutsche Firmen mit einzubeziehen. Das Interesse an der deutschen Wirtschaft entlang der gesamten Wertschöpfungskette ist sehr groß. Russland möchte beispielsweise deutsche Reeder davon überzeugen, ihre Fracht nach Asien über den Nördlichen Seeweg zu schicken. Darüber hinaus ist deutsche Expertise bei Umweltthemen gefragt. Zudem erhofft sich die russische Seite eine intensive Zusammenarbeit mit deutschen Schiffsbauern oder Kartographen. Insgesamt gibt es ein sehr breites Spektrum für potenzielle Zusammenarbeit.
Warum die Wahl auf mich als Geschäftsführer des OAOEV gefallen ist, liegt daran, dass wir uns als Interessensvertreter für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland in Deutschland und Europa einsetzen. Dabei kommt uns unser weit verzweigtes Kontaktnetz im wirtschaftspolitischen Umfeld, sowie bei Transport und Logistik, Umwelttechnologien - Stichwort Nachhaltigkeit - oder Digitalisierung sehr zu Gute. Die russische Seite erhofft sich von unserem Engagement entsprechende Kontakte, Unterstützung beim Marketing, sowie die politische Flankierung des Projekts.
3. Hat sich die Agenda des Beirats durch die Coronapandemie verändert? Welche Initiativen stehen derzeit im Mittelpunkt?
Der Austausch geht trotz Corona weiter, nur finden die Sitzungen in diesem Jahr online statt. Standen im Jahr 2019 vor allem die Grundlagen des Projektes im Mittelpunkt, geht es in diesem Jahr schon stärker in die Umsetzung hinein. So wurden in einem Experiment Flüssiggastanker aus dem LNG-Werk von Novatek auf der Jamal-Halbinsel im Frühjahr unter schwierigen Navigationsbedingungen über den Nördlichen Seeweg geschickt. Rusatom Cargo stellte bei der letzten Sitzung seine Vorhaben bei Infrastruktur, Umweltschutz oder Navigationsunterstützung vor. Ein wichtiger Meilenstein ist das Jahr 2024. Ab dann soll die ganzjährige Navigation auf der Route möglich sein.
4. Wo sehen Sie Geschäftschancen für deutsche Unternehmen? Wie können sie ganz konkret an Aufträge kommen?
Bislang stehen vor allem Projekte zum Abtransport von Flüssiggas im Fokus, an denen sich Firmen beteiligen können. Bei all den anderen genannten Bereichen wird die Kommerzialisierung noch eine Weile dauern. Zunächst müssen einige wichtige Dinge geklärt werden, damit das Projekt konkurrenzfähig wird.
Zwar ist die Strecke über den Nördlichen Seeweg kürzer als über den Suezkanal, was ihre Nutzung wirtschaftlich und ökologisch sinnvoll macht. Doch für den Transport ist eine Eisbrecher-Eskorte notwendig - das kostet extra. Zudem sind die Gewässer im Nordmeer wesentlich flacher, so dass weniger Container befördert werden können, was wiederum die Wirtschaftlichkeit des Projekts verringert. Zudem ist die Strecke kartographisch und hydrologisch noch nicht ausreichend erforscht.
Doch wie immer gilt: Je früher man einsteigt, desto besser ist die Ausgangsposition. Gefragt sind jetzt vor allem Reeder und Logistiker, um den Containertransport zu entwickeln. Geschätzt wird die Expertise deutscher Hafenbetreiber und Ausrüster für Hafenplanung und -bau sowie von Konstrukteuren für den Bau von Schiffen mit Eisklasse. Daneben bieten sich Chancen für Werbeagenturen bei der Erarbeitung einer Marketingstrategie, sowie für Versicherer, Seerechtsanwälte oder IT-Unternehmen.
Wir als OAOEV thematisieren den Nördlichen Seeweg in unserer Arbeitsgruppe Logistik in Hamburg. Zwei Sitzungen haben dazu bereits stattgefunden. Interessierte Firmen können sich jederzeit bei uns melden.
5. Inwieweit behindern die EU-Sanktionen das Engagement deutscher Firmen in Russlands Hohen Norden?
Eigentlich gar nicht. Von den EU-Sanktionen sind ja nur Erschließungs- und Förderarbeiten im Offshore-Gebiet nördlich des Polarkreises, in einer Wassertiefe von mehr als 150 Metern betroffen. Ansonsten stellen die EU-Sanktionen kein Hindernis dar. Doch sollten deutsche Firmen beachten, dass die Vereinigte Schiffbaugesellschaft (OSK) auf der US-Sanktionsliste steht.
6. Welche Rolle spielt China bei der Arktiserschließung und der Entwicklung des Nördlichen Seewegs? Machen chinesische Firmen deutschen Unternehmen dort starke Konkurrenz?
In dem Beirat sitzt überraschenderweise keine chinesische Firma. Zweifelsohne ist China an dem Projekt sehr interessiert, da der Nördliche Seeweg Teil der „Arctic Silk Road“ ist. Zudem ist China der potenziell wichtigste Abnehmer für Rohstoffe aus dem Hohen Norden. Aber bislang kann ich nicht erkennen, dass sich chinesische Firmen in den Bereichen, in denen die deutsche Wirtschaft stark ist, groß engagieren.
Ostausschuss – Osteuropaverein der deutschen Wirtschaft (OAOEV)
Herr Michael Harms, Geschäftsführer
Gertraudenstr. 20
10178 Berlin
T: +49 (0) 30-206-167-116
Staatliche Atomenergiegesellschaft Rosatom
Herr Aleksej Lichatschjow, Generaldirektor
Ul. Bolschaja Ordynka 24
119017 Moskau
T: +7 (0) 499-949-45-35
Sowkomflot
Herr Sergej Frank, Generaldirektor
Ul. Gasheka 6
125047 Moskau
T: +7 (0) 495-660-40-00