Sie sind ein ausländisches Unternehmen, das in Deutschland investieren möchte?

Wirtschaftsumfeld | Polen | EU-Mitgliedschaft

Es geht um mehr als die Milliarden aus Brüssel

Das polnische Verfassungsgericht stellt den Vorrang des EU-Rechts infrage. Oppositionsparteien warnen, der EU-Austritt stehe bevor. Ein solcher Schritt hätte gravierende Folgen.

Von Christopher Fuß | Warschau

Im Oktober 2021 erklärte das polnische Verfassungsgericht, Teile des Vertragswerkes der Europäischen Union (EU) seien nicht vereinbar mit der Verfassung Polens. Geklagt hatte Premierminister Mateusz Morawiecki. Er reagierte auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom März 2021. Der EuGH war zu der Überzeugung gelangt, Polen verstoße mit einer neu gegründeten Richterwahlkammer gegen rechtsstaatliche Prinzipien der EU. Die polnische Regierung unter Führung der Partei PiS argumentierte, der Aufbau des nationalen Gerichtswesens gehöre zu den alleinigen Kompetenzen der Mitgliedsstaaten.

In Anlehnung an den Brexit, den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU, wird in der Presse ein Polexit diskutiert. Dass Polen die EU verlässt, ist jedoch unwahrscheinlich. Gegen ein solches Szenario spricht schon allein die proeuropäische Stimmung in der Bevölkerung. Umfragen zeigen, dass 60 bis 80 Prozent der Menschen in Polen einen Verbleib in der EU befürworten. Darin unterscheidet sich das Land vom Vereinigten Königreich.

EU-Mitgliedschaft nützt Polen und Deutschland

Polen ist der größte Nettoempfänger von EU-Haushaltsmitteln. Zwischen 2004 und 2020 erhielt das Land fast 190 Milliarden Euro. Bis 2027 stehen weitere 170 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Zuschüsse ermöglichten umfangreiche Modernisierungsprojekte. So wuchs das polnische Autobahnnetz dank europäischer Hilfen seit dem EU-Beitritt 2004 um das Fünffache. Auch Schienenwege wurden modernisiert.

Mittel aus dem mehrjährigen Finanzrahmen und aus dem europäischen Wiederaufbaufonds sind für die polnische Regierung von großer Bedeutung. Das Wirtschaftsprogramm Polski Ład, ein Flaggschiffprojekt der PiS, finanziert sich in wesentlichen Teilen über EU-Töpfe. Polen will in Automatisierung und erneuerbare Energien investieren. Fließen die EU-Gelder nicht, stünden die Pläne auf der Kippe.

Parallel würden die Absatzchancen für deutsche Lieferanten sinken. Von bisherigen Investitionen profitierten deutsche Unternehmen. Ein Beispiel: Schienenfahrzeugbauer Siemens Mobility lieferte 2021 fünf Lokomotiven an die polnische Leasinggesellschaft Cargounit. Der Kauf wurde mit EU-Geldern finanziert. Bei einem Polexit würden diese Subventionen ausbleiben.

Polexit bedeutet sinkende Investitionen

Nach dem EU-Beitritt ließen sich viele ausländische Produzenten in Polen nieder. Allein der Bestand von Direktinvestitionen aus Deutschland hat sich seit 2010 verdoppelt. Firmen wie Miele und Volkswagen haben Produktionsstandorte. Mittlerweile gewinnt der Bereich Forschung und Entwicklung an Bedeutung. Bayer eröffnete einen Digital Hub in Warschau. Die Deutsche Telekom unterhält in Krakau einen von weltweit zwei Technologie-Inkubatoren.

Investoren aus Amerika und Asien sind ebenfalls am polnischen Markt vertreten. Der südkoreanische Konzern LG produziert in Niederschlesien Batterien für Elektroautos. Zu den bedeutendsten Abnehmern gehören Automobilhersteller in Deutschland und Frankreich.

Dank Polens EU-Mitgliedschaft entfallen zahlreiche bürokratische Hürden beim innereuropäischen Warentransport. Verlässt das Land die Staatengemeinschaft, verliert es einen wichtigen Standortvorteil. Deutsche und internationale Investoren müssten auf andere EU-Länder in der Region ausweichen.

Polen ist auf freien Warenverkehr angewiesen 

Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt ist nach Einschätzung mehrerer Ökonomen noch wichtiger als die Zuweisung von EU-Haushaltsmitteln. Der Vorsitzende der polnischen Nationalbank Adam Glapiński erklärte im Oktober 2021: "Ohne EU-Mittel kämen wir schon klar." Wichtiger sei der freie Handel zwischen den Mitgliedsstaaten. Polen ist eng in europäische Wertschöpfungsketten eingebunden. Die wirtschaftlichen Verflechtungen haben seit dem EU-Beitritt 2004 stark zugenommen. Polens Handelsumsatz mit den Ländern der EU wuchs zwischen 2004 und 2020 um das Dreieinhalbfache. Rund 75 Prozent aller polnischen Exporte gehen an europäische Partner.

Einem Polexit könnten Zölle und weitere Handelsbarrieren folgen. Meldungen aus dem Vereinigten Königreich lassen erahnen, was das in der Praxis bedeutet. Der britische Außenhandel mit der EU lag zwischen Januar und Mai 2021 um bis zu 16 Prozent unter dem Durchschnitt von 2018 bis 2020. Vor allem mittelständische Unternehmen leiden unter den Auswirkungen.

Deutsch-polnischer Außenhandel wäre beeinträchtigt

Polen ist für Deutschland ein wichtiger Absatz- und Beschaffungsmarkt. Im Jahr 2020 kletterte das Land auf Platz fünf der umsatzstärksten deutschen Außenhandelspartner. Komponenten und Baugruppen polnischer Hersteller werden in Deutschland verarbeitet und anschließend weiterverkauft. Laut Berechnungen des Polnischen Instituts für Ökonomie (PIE) gehen 29 Prozent aller deutschen Importe aus Polen erneut in den Export.

Verlässt Polen die EU, drohen den Unternehmen längere Transportzeiten. Der März 2020 gab einen Vorgeschmack. Bei Ausbruch der Coronapandemie führte Polen Kontrollen an der Grenze zu Deutschland ein. Lkw-Fahrer mussten Wartezeiten von über 30 Stunden einplanen.

Kein Polexit, aber…

Die Regierungspartei PiS weiß um die möglichen Folgen. Sie kennt auch die Stimmung in der Bevölkerung. Wenig überraschend lehnte im September 2021 der einflussreiche PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński einen Polexit ab. Politische Betriebsunfälle sind indes möglich. Der Brexit begann als Versuch des damaligen britischen Premierministers David Cameron, einen innerparteilichen Machtkampf zu beenden. Auch in Polen spielen Konflikte zwischen den Regierungspartnern eine Rolle. Tatsächlich gibt es für einen Polexit aber keine politischen Mehrheiten.

Die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts könnte allerdings die Auszahlung von EU-Geldern verzögern. Schon heute sind die Mittel aus dem europäischen Wiederaufbaufonds betroffen. Die Europäische Kommission hält diese mit Blick auf den Umbau des polnischen Justizwesens bislang zurück. Gibt es bis Jahresende keine Einigung, verliert Polen einen Vorschuss in Höhe von 3,1 Milliarden Euro. 

nach oben
Feedback

Anmeldung

Bitte melden Sie sich auf dieser Seite mit Ihren Zugangsdaten an. Sollten Sie noch kein Benutzerkonto haben, so gelangen Sie über den Button "Neuen Account erstellen" zur kostenlosen Registrierung.