Rechtsbericht | EU | Arbeitszeit
Bereitschaftszeit + Rufbereitschaft = Arbeitszeit?
Mit der Frage, wann eine Bereitschaftszeit in Form der Rufbereitschaft Arbeitszeit darstellt, hat sich der EuGH am 9. März 2021 in zwei Urteilen befasst.
30.03.2021
Von Helge Freyer | Bonn
Gemäß Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG ist Arbeitszeit zunächst mal „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Alles außerhalb dieser Arbeitszeit ist grundsätzlich Ruhezeit (Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2003/88/EG).
Nun stellt eine Bereitschaftszeit, während der ein Arbeitnehmer tatsächlich keine Tätigkeit für seinen Arbeitsgeber ausübt, aber nicht zwingend Ruhezeit dar. Dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) grundsätzlich dann nicht, wenn sich der Arbeitnehmer an seinem Arbeitsplatz, der nicht seine Wohnung ist, im standby-Modus halten muss. Von Arbeitszeit ist immer dann auszugehen, wenn es während der Bereitschaftszeit nicht möglich ist, jenseits von Einsätzen eigenen Interessen nachzugehen. Die objektiven Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers müssen allerdings auf Einschränkungen zurückzuführen sein, die auf nationalen Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Maßnahmen des Arbeitgebers basieren. Organisatorische Probleme zählen nicht dazu. Diese können sich zum Beispiel daraus ergeben, dass es in dem Gebiet, in dem sich der Arbeitnehmer aufhält, wenig Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten gibt.
Wie so oft ist alles eine Frage des Einzelfalles. Und so hebt der EuGH hervor, „dass es Sache der nationalen Gerichte ist, eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, um zu prüfen, ob eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ einzustufen ist“.
In den vorliegenden Rechtssachen hat der EuGH am 9. März 2021 wie folgt für Recht erkannt:
- Rechtssache C-344/19:
„Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, während der ein Arbeitnehmer lediglich telefonisch erreichbar und in der Lage sein muss, sich bei Bedarf innerhalb von einer Stunde wieder an seinem Arbeitsplatz einzufinden, wobei er die Möglichkeit hat, sich in einer von seinem Arbeitgeber am Arbeitsort zur Verfügung gestellten Dienstunterkunft aufzuhalten, aber nicht verpflichtet ist, dort zu bleiben, nur dann in vollem Umfang Arbeitszeit im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls, zu denen die Folgen einer solchen Zeitvorgabe und gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie seine Möglichkeit, dann die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen. Bei einer solchen Beurteilung ist es unerheblich, dass es in der unmittelbaren Umgebung des Arbeitsorts wenig Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten gibt.“
- Rechtssache C-580/19:
„Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, während der ein Arbeitnehmer in der Lage sein muss, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit dem ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonderrechte gegenüber der Straßenverkehrsordnung und Wegerechte die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen, nur dann in vollem Umfang „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls, zu denen die Folgen einer solchen Zeitvorgabe und gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie seine Möglichkeiten, dann die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.“
Zum Thema:
- Pressemitteilung Nr. 35/21 des Europäischen Gerichtshofs vom 9. März 2021: Eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft stellt nur dann in vollem Umfang Arbeitszeit dar, wenn die dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, während dieser Zeit seine Freizeit zu gestalten, ganz erheblich beeinträchtigen, abrufbar auf der Webseite des EuGH
- EuGH-Urteil vom 9. März 2021 in der Rechtssache C‑344/19, abrufbar auf der Webseite des EuGH
- EuGH-Urteil vom 9. März 2021 in der Rechtssache C‑580/19, abrufbar auf der Webseite des EuGH
- Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, abrufbar auf der Webseite von EUR-Lex, Der Zugang zum EU-Recht
- GTAI-Meldung vom 23. Februar 2018: EU - Bereitschaftsdienstzeit gleich Arbeitszeit? / EuGH-Urteil
- EU
- Vereinigtes Königreich
- Spanien
- Schweden
- Portugal
- Polen
- Österreich
- Niederlande
- Malta
- Litauen
- Lettland
- Italien
- Irland
- Frankreich
- Finnland
- Estland
- Dänemark
- Belgien
- Bulgarien
- Deutschland
- Griechenland
- Island
- Kroatien
- Luxemburg
- Rumänien
- Slowakei
- Slowenien
- Tschechische Republik
- Ungarn
- Zypern
- Arbeits- und Arbeitsgenehmigungsrecht
- Recht