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Wirtschaftsumfeld
Special | Coronavirus | Russland
Russland startet ein zweites Hilfspaket, um die Folgen der Corona-Pandemie abzumildern. Doch der Umfang der Maßnahmen bleibt hinter den Wünschen der Wirtschaft zurück. (Stand: 25. April 2020)
Von Gerit Schulze | Moskau
Das Coronavirus breitet sich in Russland mit hohem Tempo aus. Der Höhepunkt des Infektionsgeschehens wird für Mitte Mai 2020 erwartet. Damit zeichnet sich ein langer Kampf gegen das Virus und die wirtschaftlichen Folgen ab. In den großen Ballungszentren des Landes dürften die strikten Beschränkungen für Privatpersonen, Betriebe und den Einzelhandel noch mindestens bis Mitte Juni dauern.
Das Moskauer Vnesheconombank Institute rechnet für das 2. Quartal 2020 aufgrund der Quarantänemaßnahmen mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um 18 Prozent im Jahresvergleich. Präsident Wladimir Putin hat deshalb am 15. April 2020 weitere Maßnahmen für die Wirtschaft angekündigt:
Die Regierung aktualisiert das Verzeichnis der systemrelevanten Unternehmen fortlaufend. Diese Firmen bekommen günstige Kredite zum aktuellen Leitzins (5,5 Prozent) zur Aufrechterhaltung ihres Geschäftsbetriebs. Der Staat übernimmt Garantien für die Hälfte der Kreditsumme. Auf Vorschlag von Ministerpräsident Mischustin gibt es statt einer Liste mehrere Branchenlisten. Die Kommission zur Steigerung der Nachhaltigkeit der Entwicklung der russischen Wirtschaft billigte die Verzeichnisse mit insgesamt 1.151 Unternehmen (Stand: 7. Mai 2020) der Ministerien für Industrie und Handel, Energie, Verkehr, Bauwirtschaft, Kommunikation, Landwirtschaft, natürliche Ressourcen (Rohstoffe), Finanzen, Gesundheit, Bildung und Wissenschaft sowie zweier Staatsholdings (Rosatom, Roskosmos). Die Unternehmen wurden nach Kriterien wie Umsatz, Beschäftigtenzahlen oder Produktionsmengen ausgewählt.
In den nächsten Wochen berät die Regierung konkrete Hilfen für einzelne Branchen.
Erster Wirtschaftszweig war am 16. März 2020 die Bauindustrie:
Weitere Rettungspakete sollen für den Fahrzeug- und Flugzeugbau, die Landwirtschaft, Wohnungswirtschaft und Leichtindustrie geschnürt werden. Präsident Putin schlug am 25. April vor, die Automobilindustrie im Jahr 2020 mit 20,7 Milliarden Rubel (257,5 Millionen Euro; EZB-Wechselkurs am 25.04.2020: 1 Euro = 80,3991 Rubel) zu unterstützen:
Die Regierung hat Branchen definiert, die besonders stark von der Coronapandemie betroffen sind. Firmen aus diesen Branchen dürfen mit ihren Banken die Konditionen für bestehende Kredite anpassen. Außerdem bekommen sie zinsvergünstigte Darlehen staatlicher Banken zur Lohnauszahlung (im ersten halben Jahr zinsfrei) und den angekündigten Gehaltszuschuss von 12.130 Rubel je Beschäftigten. Die Liste umfasst inzwischen 13 Wirtschaftszweige.
Lkw-Transporte (Speditionen) |
Luftfahrt (Fluggesellschaften, Flughäfen) |
Tourismus |
Messe- und Konferenzveranstalter |
Hotels |
Unterhaltung und Freizeit (inklusive Kinobetreiber) |
Kultur und Sport |
Restaurants und Cafés |
Haushaltsnahe Dienstleistungen (Chemische Reinigungen, Frisöre und Kosmetiksalons, Reparatur von IT und Elektrogeräten) |
Non-Food-Einzelhändler |
Zahnarztpraxen |
Zusätzliche Bildung (Dienstleister für Nachhilfeunterricht, Fort- und Weiterbildung) |
Massenmedien |
Trotz der neuen Maßnahmen gehört Russland in Osteuropa zu den Schlusslichtern bei den Corona-Hilfen für die Wirtschaft, ergab eine Untersuchung des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Während Kasachstan und die baltischen Republiken 7 bis 10 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung dafür bereitstellen, summieren sich Russlands Finanzhilfen laut WIIW nur auf 1,9 Prozent des BIP.
Andere Zahlen präsentiert die Regierung in Moskau. Finanzminister Anton Siluanow schätzt, dass aus dem Staatshaushalt im Kampf gegen die Pandemie Finanzmittel in Höhe von 2,8 Prozent des BIP fließen.
Russische Wirtschaftswissenschaftler bezweifeln, dass die Pläne der Regierung ausreichend sind. Sie plädieren für zusätzliche Unterstützung wichtiger Kernbranchen wie Automobil- und Flugzeugbau und für einen Schuldenschnitt bei kleinen und mittleren Unternehmen. Auch die russischen Wirtschaftsverbände fordern mehr finanzielles Engagement des Staates. Vorgeschlagen wird, die Gelder aus dem Nationalen Wohlstandsfonds (NWF) zur Stimulierung der Investitionstätigkeit zu nutzen.
Der Nationale Wohlstandsfonds umfasste am 1. März 2020 insgesamt 123, 14 Milliarden US$ und entsprach damit 7,3 Prozent des BIP (1. April 2020: 165,38 Milliarden US-Dollar; 11,3 Prozent des BIP). Dem steht jedoch die Haushaltsregel entgegen: Nach dieser fließen nur dann Gelder in den staatlichen Investitionsfonds, wenn das Volumen des NWF 7% des BIP übersteigt. Aktuell wären das 340 Milliarden Rubel (0,3 Prozent des BIP). Wirtschaftsminister Reschetnikow gab am 21. April 2020 bekannt, dass die Regierung an einem dritten und einem vierten Hilfspaket arbeitet.
Auch deutsche Firmen in Russland empfinden Moskaus bisherige Anti-Krisen-Pakete als unzureichend. Das sagten 85 Prozent der Teilnehmer einer aktuellen Umfrage der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK). An der Umfrage Anfang April 2020 hatten 149 Mitgliedsunternehmen der AHK Russland teilgenommen.