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Lohn- und Lohnnebenkosten | Indien
Indiens Wirtschaft schwächelt und schafft nicht genügend neue Arbeitsplätze. Gleichzeitig fehlen den Unternehmen Fachkräfte. Die Gehälter dürften 2020 um rund 9 Prozent zulegen.
20.04.2020
Von Boris Alex | New Delhi
Indiens Wirtschaftsdynamik hat sich seit 2018 abgeschwächt. Für das Finanzjahr 2019/20 (1. April bis 31. März) wird ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von höchstens 5 Prozent erwartet. Damit nimmt auch der Druck auf den Arbeitsmarkt weiter zu. Denn jedes Jahr drängen zwischen 8 Millionen und 12 Millionen junge Inderinnen und Inder auf den Arbeitsmarkt. Berechnungen der Regierung zufolge, müsste die Wirtschaft real um mindestens 8 Prozent zulegen, um die Berufseinsteiger aufnehmen zu können.
Doch schon in den letzten Jahren mit deutlich höheren BIP-Zuwächsen konnte die Zahl der neu geschaffenen Stellen nicht die Arbeitsplatznachfrage decken. Die für 2020/21 erwartete Erholung der Wirtschaft dürfte wegen der Corona-Pandemie nicht eintreten. Die Analyseinstitute rechnen für dieses Finanzjahr nur noch mit einem realen BIP-Plus zwischen 4 und 5 Prozent. Hinzu kommen mögliche Massenentlassungen in stark betroffenen Sektoren - allein in der Tourismusbranche stehen 38 Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel, schätzt die Federation of Associations in Indian Tourism and Hospitality.
Der indische Arbeitsmarkt weist eine Reihe von Eigenheiten auf. Beispielsweise sind mehr als 80 Prozent der Erwerbstätigen im nichtorganisierten Sektor als selbstständige Arbeiter oder als Arbeitnehmer in Klein- und Kleinstunternehmen tätig. Schätzungsweise 50 Prozent des BIP werden im nichtorganisierten Sektor erwirtschaftet, was dessen Schlüsselrolle für die indische Wirtschaft und den Arbeitsmarkt widerspiegelt. Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten macht nur ein Fünftel der schätzungsweise 520 Millionen Erwerbstätigen aus.
Offiziellen Angaben zufolge lag die Arbeitslosenquote 2019 gemäß Definition der International Labour Organization (ILO) im Schnitt bei 5,3 Prozent. Das Centre for Monitoring the Indian Economy (CMIE) kommt bei einer abweichenden Berechnungsmethode für Januar 2020 auf 7,2 Prozent. Nach einem Anstieg auf über 8 Prozent im Sommer 2019 hat sich die Lage am Arbeitsmarkt zum Jahreswechsel entspannt. Im Zuge der Pandemie ist aber ein Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu erwarten.
Trotz jährlich Millionen neuer Arbeitskräfte bleibt der Fachkräftemangel eine der größten Herausforderungen für die Wirtschaft. Laut der Regierung verfügen lediglich 15 Prozent der Erwerbstätigen über eine akademische oder berufliche Ausbildung. Diese Defizite machen sich in der verarbeitenden Industrie und im Dienstleistungssektor bemerkbar.
Die Qualität der Ausbildung, sowohl im akademischen als auch nichtakademischen Bereich, differiert stark. Während die Indian Institutes of Technology (IIT) und die Indian Institutes of Management (IIM) weltweit einen ausgezeichneten Ruf genießen, bleiben die meisten Universitäten weit hinter diesem Niveau zurück. Unternehmen bemängeln zudem den geringen Praxisbezug. Deutsche Maschinenbauer berichten beispielsweise, dass ein Ingenieur nach dem Universitätsabschluss meist weitere zwei bis drei Jahre im Unternehmen ausgebildet werden müsse, bis er bei einem Projekt im Team voll einsatzfähig ist.
Bei der nichtakademischen Berufsausbildung ist das Problem noch ausgeprägter. Besonders hoch ist der Fachkräftemangel bei traditionellen Handwerks- und Lehrberufen. Eine Ausbildung vergleichbar mit dem dualen System gibt es nicht. Eine bedarfsorientierte Berufsausbildung geht bislang vor allem auf Einzelengagements von Unternehmen, die sich mit privaten oder staatlichen Ausbildungseinrichtungen zusammengetan haben, aus. Wegen des Mangels an externen Ausbildungsmöglichkeiten haben viele deutsche Firmen eigene, interne Ausbildungsstrukturen geschaffen.
Mit dem 2015 gestarteten Bildungsprogramm Skill India will die Regierung dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften entgegensteuern. Ehrgeiziges Ziel: Bis 2022 sollen 400 Millionen Menschen ausgebildet werden. Die Privatwirtschaft wird inhaltlich und finanziell in Form von Public-private Partnerships (PPP) eingebunden.
Unternehmen greifen bei der Besetzung von Leitungsfunktionen vermehrt auf die Dienstleistungen von Personalberatern zurück. Die Agenturen berechnen 25 bis 33 Prozent des Bruttojahresgehalts für die erfolgreiche Vermittlung auf höherer Managementebene.
Nicht selten erhalten Betriebe auf Stellenausschreibungen Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Bewerbungen, von denen der Großteil meist nicht einmal die Mindestqualifikationen erfüllt. Vor allem bei personalintensiven Unternehmen übernehmen Agenturen deshalb auch die Vorauswahl der Kandidaten.
Die Rekrutierung von Absolventen der renommierten indischen Hochschulen wie den IIT oder den IIM erfolgt im Rahmen von Campus Placements. Bei diesen Veranstaltungen haben Unternehmen die Möglichkeit, sich zu präsentieren und mit geeigneten Kandidaten in Kontakt zu treten. Das Verfahren unterliegt sehr strengen Vorschriften über die Abgabe von Jobangeboten seitens der Unternehmen sowie hoher Transparenz hinsichtlich des offerierten Gehalts.
Letzten verfügbaren Zahlen zufolge gab es 2015 insgesamt 12.420 offizielle Gewerkschaften mit insgesamt 8,1 Millionen Mitgliedern. Die meisten Gewerkschaften sind organisatorisch eng mit politischen Parteien verbunden. Flächendeckende Tarifverträge gibt es nicht, Vereinbarungen werden in der Regel unternehmensabhängig geschlossen.
Der Arbeitsmarkt ist stark reguliert, weshalb viele Unternehmen Zeitarbeiter beschäftigen, um den Personalbestand flexibler an die Auftragssituation anpassen zu können. Dies birgt Konfliktpotenzial, welches in den letzten Jahren zu Streiks wegen unterschiedlicher Arbeitsbedingungen für Festangestellte und Leiharbeitskräfte führte. Nach Angaben des Labour Bureau gab es von Januar bis Juli 2019 (letzte verfügbare Daten) insgesamt 62 Streiks und Aussperrungen mit einem Verlust von 940.500 Manntagen.
Bevölkerung (in Mrd.) | 1,3 |
Erwerbspersonen (Bevölkerung älter als 15 und jünger als 65 Jahre, in Mio.) 1) | 903 |
Erwerbstätige (in Mio.) | 519 |
Arbeitslosenquote, offizielle (in %, nach ILO-Definition) | 5,3 |
Analphabetenquote (in %) | 25,6 |
Universitätsabschluss (in Mio) 2) | 37,4 |