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Wirtschaftsumfeld | Indien | Lieferketten
Indische Unternehmen sollen mehr selbst produzieren und weniger aus China importieren, fordert die Regierung. Doch der Weg zur autarken Wirtschaft ist noch weit.
14.09.2020
Von Boris Alex | Berlin
Die indische Wirtschaft ist eng mit China verflochten, doch das soll sich ändern. Im Zuge der Coronakrise hatte Premierminister Narendra Modi im Mai 2020 mit der Devise Atmanirbhar Bharat (Selbstständiges Indien) eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik angekündigt. Unter anderem soll die Importabhängigkeit von China in Schlüsselindustrien wie Pharmazeutik, Kfz, Elektro und Elektronik verringert werden. Mit dem seit Monaten schwelenden Grenzkonflikt im Himalayagebiet hat die Regierung das Tempo beim "China-Exit" nochmals angezogen und auch erste Maßnahmen zur Entflechtung der beiden Volkswirtschaften ergriffen.
Neben den direkten Auswirkungen auf den Außenhandel und Investitionen, sollen sie auch für Bewegung in den globalen Lieferketten sorgen. Indien will sich als alternativer Fertigungsstandort zu China und den südostasiatischen Ländern wie Vietnam und Thailand positionieren. Zwar hat das Land in den letzten Jahren unter anderem in der Kfz- und Zulieferindustrie, der Elektronikfertigung oder im Textilsektor seine Wettbewerbsposition verbessern können, doch auch hier sind die Firmen stark auf den Import von Rohstoffen und Vorprodukten - meist aus China - angewiesen.
So werden etwa 30 Prozent der in lokal produzierten Pkw verbauten Kfz-Teile entweder direkt von chinesischen Herstellern oder aus den chinesischen Werken der großen internationalen Automotive-Konzerne zugeliefert. Im Jahr 2019 waren es Kfz-Teile im Wert von knapp 5 Milliarden US-Dollar (US$). Im Pharmasektor werden sogar 70 Prozent der benötigten Wirkstoffe (Active Pharmaceutical Ingredients; API) in China bezogen.
Um die Importabhängigkeit zu verringern, hat Indien eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen. In einem ersten Schritt hat das Department for Promotion of Industry and Internal Trade (DPIIT) gemeinsam mit Industrieverbänden eine Liste von Importprodukten erstellt, die mittel- bis langfristig durch lokale Erzeugnisse ersetzt werden sollen. Diese wird kontinuierlich erweitert und reicht inzwischen von Vorprodukten für die Chemie-, Pharma- und Kunststoffindustrie über Konsumgüter wie Möbel, Unterhaltungselektronik, Elektrohausgeräte und Spielzeug bis hin zu Industriegütern wie Ausrüstung für den Energie- und Telekommunikationssektor, die Robotik und Bauteile für Elektrofahrzeuge.
Da Indien aber in vielen Produktsparten bislang weder über das Know-how noch die nötigen Fertigungskapazitäten verfügt, um hier adäquate lokale Erzeugnisse anzubieten, sollen verstärkt internationale Investoren auf den Subkontinent gelockt werden. Diese würden dann idealerweise nicht nur für den indischen Markt fertigen, sondern den Standort als Exporthub nutzen. In diesem Sinne hat Premierminister Modi die 2014 gestartete Standortkampagne Make in India im August 2020 zu Make for World weiterentwickelt.
Um den exportorientierten Unternehmen den Gang nach Indien schmackhaft zu machen, plant die Regierung, weitere Sonderwirtschafts- und Exportzonen sowie neue Industrie-Cluster einzurichten. Beispielsweise ist der Bau von Bulk Pharma Parks zur Herstellung von Arzneistoffen geplant. Die Ansiedlung der Investoren soll mit Hilfe von Fast Track und Single Window Einrichtungen künftig schneller vorangetrieben werden. Ein geplantes Ranking der Exportzonen soll den Firmen die Standortentscheidung erleichtern und den Wettbewerb zwischen den Bundesstaaten um potenzielle Investoren beleben.
Für die Ansiedlung von Unternehmen aus den Fokussektoren nimmt die indische Regierung auch Geld in die Hand: So wurden für internationale Elektro- und Elektronikfirmen sowie Auftragsfertiger wie Foxconn oder Wistron, die Produktionskapazitäten nach Indien verlagern oder ihre bestehenden Werke ausbauen wollen, Fördermittel von 6 Milliarden US$ bereitgestellt. Die Regierung hat zudem angekündigt, anderen Branchen wie der Kfz- und Zulieferindustrie oder der Medizintechnik zusätzliche Incentives anzubieten.
Da diese Initiativen - wenn überhaupt - erst mittel- bis langfristig Früchte tragen dürften, hat Indien Maßnahmen ergriffen, die bereits kurzfristig ihre Wirkung entfalten könnten. So sollen heimische Hersteller durch die Ausweitung von Buy Indian bei der öffentlichen Beschaffung auf weitere Produktgruppen gestärkt werden. Eine verpflichtende Ursprungsbezeichnung bei Waren, die auf der elektronischen Public Procurement Platform angeboten werden, soll für mehr Transparenz sorgen.
Einige der geplanten Maßnahmen stoßen aber bei den indischen Firmen zum Teil auf Widerstand. Die Vergabe von Einfuhrlizenzen für ausgewählte Produkte bei Hausgeräten, Unterhaltungselektronik und auch Kfz-Teilen wie Autoreifen stellt die Betriebe vor zusätzliche bürokratische Herausforderungen. Die Ankündigung der Regierung, den Basiszollsatz auf API um 10 bis 15 Prozent auf bis zu 25 Prozent anzuheben, sorgt in der Pharmabranche für Unsicherheit.
Indien dürfte seine Anstrengungen, die heimische Industrie unabhängiger von Importen zu machen, weiter verschärfen. Zudem will der Subkontinent neue regionale und internationale Lieferkettenstrukturen unter Umgehung von China aufbauen. Ein Beispiel hierfür ist die kürzlich gestartete Initiative für einen Supply Chain Pact mit Japan und Australien.
Ob das alles beim Abbau des gewaltigen Handelsdefizits von fast 50 Milliarden US$ hilft, bleibt allerdings abzuwarten. Denn trotz der Verbesserung im Doing Business Report der Weltbank seit 2015 von Platz 142 auf aktuell Rang 66 hat Indien bei den für die Supply-Chain relevanten Kriterien noch erhebliche Defizite. So sind die Logistikkosten als Anteil an den Herstellungskosten mit 13 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt. Investoren monieren zudem die langen Genehmigungsverfahren beim Landerwerb, beim Zugang zur Strom- und Wasserversorgung sowie das unflexible Arbeitsrecht.