Dieser Inhalt ist relevant für:
ItalienÖffentliche Verwaltung und Regierung
Wirtschaftsumfeld
Wirtschaftsumfeld | Italien | Öffentliche Verwaltung und Regierung
Italiens neuer Premierminister Mario Draghi versucht einen Spagat aus All-Parteien-Regierung und externen Fachexperten.
22.02.2021
Von Oliver Döhne | Mailand
In Italien geht eine neue Regierung an den Start, die fast das gesamte politische Spektrum abdeckt. Zudem gehören der neuen Regierung zahlreiche parteilose Fachexperten an.
Gemäß der italienischen Verfassung waren für die Bildung der neuen Regierung keine Neuwahlen nötig, Basis ist weiterhin das Wahlergebnis von 2018. Nach dem Rücktritt des parteilosen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, Ende Januar 2021, hatte Staatspräsident Sergio Mattarella den ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt.
Draghi gelang es, im Parlament eine überwältigende Mehrheit für sein Mandat zu finden. Dabei schaffte er es insbesondere, die Beteiligten der zwei vorangegangenen gescheiterten Koalitionen (Fünf Sterne, Lega, Demokraten, Liberi e Uguali (LEU), Italia Viva) wieder an einen Tisch zu bringen, zuzüglich Silvio Berlusconis Partei Forza Italia. In der Opposition verbleiben nur die rechtsgerichteten Fratelli d'Italia sowie einige abtrünnige Fünf-Sterne-Mitglieder.
Der politische Neustart war laut Beobachtern nötig, um Italiens große Chance durch den europäischen Recovery Fund nicht zu gefährden, der rund 209 Milliarden Euro ins Land bringen soll. Die Vorgängerregierung war auf massive Kritik gestoßen, weil sie die Herkulesaufgabe, einen breiten Konsens dafür zu finden, wie die Mittel aus dem Corona-Hilfsfond verplant und vergeben werden können, nicht bewältigt habe. Auch sei sie in ihrem Entwurf der Verwendung zu vage geblieben.
Dennoch will sich Draghi stark an dem Entwurf der Vorgängerregierung orientieren, der Digitalisierung und grüne Wende bereits klar in den Vordergrund gestellt hatte. Der neue Entwurf stellt strategische Projekte in den Fokus, deren konkrete Fortschritte bis 2026 messbar sind. Zudem sollen die Projekte Italien über den Planungszeitraum hinaus zukunftsfähig machen, unter anderem bei den Themen Energie, Klimaschutz, Kommunikation und Mobilität. Auch Forschung, Bildung und Wettbewerbsfähigkeit sollen mehr in den Mittelpunkt rücken.
In seiner ersten Rede als Premierminister vor dem Parlament betonte Draghi am 19. Februar 2021 zudem die Dringlichkeit von Reformen im Steuer- und Justizsystem sowie in der öffentlichen Verwaltung. Er äußerte auch den Wunsch, Italiens Zusammenarbeit mit Deutschland und Frankreich besser zu strukturieren und zu verstärken.
Zentrale Posten für die Wirtschaft besetzt Draghi mit externen Fachleuten wie dem ehemaligen Investment Banker und Vodafone-Chef Vittorio Colao, der bereits unter Conte die Task Force für einen Neustart nach dem Coronaausbruch leitete. Colao wird Sonderbeauftragter (mit Ministerrang) für technische Innovation und digitalen Wandel. Er ist damit einer der Hauptverantwortlichen für die digitale Wende, in die nach Wunsch der Europäischen Union (EU) mindestens 20 Prozent des Recovery Fund fließen sollen, in Italien also rund 40 Milliarden Euro.
Eine weiterer Experte im Kabinett ist der Physiker und Forscher Roberto Cingolani, der dem Ministerium für den ökologischen Übergang vorstehen wird, dem bisherigen Umweltministerium mit voraussichtlich erweiterter Zuständigkeit. Unter anderem ist es seine Aufgabe, einen sinnvollen Einsatz für die 37 Prozent des Recovery Fund zu finden, die nach Vorgabe der EU in grüne Projekte fließen sollen, darunter in die Bereiche Energie-, Transport- und Kreislaufwirtschaft. In Italiens Fall sind das über 75 Milliarden Euro. Cingolani leitete das renommierte Forschungsinstitut IIT, forschte unter Nobelpreisträger Klaus von Klitzing am Max Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart und war zuletzt Innovationsleiter beim (mehrheitlich staatlichen) italienischen Rüstungskonzern Leonardo.
Finanzminister wird der ebenfalls parteilose ehemaligen Notenbanker und Präsident des italienischen Rechnungshofes Daniele Franco, der in den 90er Jahren wirtschaftlicher Berater des EU-Generaldirektorats Wirtschaft und Finanzen war und als europafreundlicher Vertrauensmann Draghis gilt.
Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, eine wichtige Schaltstelle bei der konkreten Fördermittelvergabe im Rahmen des Recovery Fund, geht von den Fünf-Sternen zur Lega über und wird künftig von Giancarlo Giorgetti geleitet. Giorgetti war bereits Sektretär des Premiers im Kabinett Conte 1 (eine Art Kanzleramtsminister). Am Ende der letzten "technischen" Regierung unter Mario Monti (2013) war Giorgetti in einen Rat der Wirtschaftsweisen berufen worden, um Zukunftsreformen für eine gewählte Regierung auszuarbeiten. Er trat für eine Reform des Wahlsystems, strenge Haushaltsdisziplin und Privatisierungen in strategischen Sektoren ein. Obwohl er als zurzeit engster Vertrauter von Lega-Führer Matteo Salvini gilt, wird Giorgetti dem liberalen Flügel der Lega zugeordnet und setzte sich immer wieder für den konstruktiven Dialog mit Deutschland und Europa ein.
Die erste Reaktion der Wirtschaftsverbände auf die Regierung Draghi ist optimistisch. Carlo Bonomi, Präsident des Industrieverbands Confindustria sicherte seine Unterstützung für eine breit aufgestellte öffentlich-private Partnerschaft zu, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern und das Investitionsklima zu verbessern. Ein besonderes Augenmerk lenkte er auf die schwierige finanzielle Lage vieler Unternehmen in Zusammenhang mit der Coronakrise, die Notwendigkeit von Steuerreformen und das Thema Staatsverschuldung.
Der Handelskammer-Dachverband Unioncamere empfahl eine Vereinfachung von Verwaltungsabläufen und eine Beschleunigung von rechtlichen Verfahren. Der Handelsverband Confcommercio erinnerte an die dramatische Lage vieler Firmen und an die weitere Notwendigkeit staatlicher Hilfen. Die Gewerkschaften hoffen, dass das Verbot von Entlassungen, die Regelungen zur Kurzarbeit und die Corona-Hilfen für Unternehmen vorerst weiter laufen.