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Die Regierung möchte mehr Investitionen im Land. Deshalb sollen Investoren stabile Bedingungen erhalten, kleine und mittlere Firmen gefördert und Rechtsnormen aktualisiert werden.
02.04.2020
Von Hans-Jürgen Wittmann | Moskau
Trotz Coronavirus-Pandemie und Ölpreisverfall arbeitet die neue russische Regierung ihr umfangreiches Arbeitsprogramm konsequent ab. Ministerpräsident Michail Mischustin geht energisch voran. Als Leiter des Föderalen Steuerdienstes (FNS) hat er sich mit der Modernisierung und Digitalisierung der als schwerfällig und ineffizient gescholtenen Behörde einen Ruf als „Macher“ und effizienter Manager erworben. Nun will er das Geschäftsumfeld für in- und ausländische Unternehmen verbessern, die überbordende Bürokratie deregulieren und das Rechtssystem modernisieren.
Seine Regierung hat den Auftrag von Präsident Putin, Russland im Ease-of-Doing-Business-Index der Weltbank von zurzeit Platz 28 weiter nach vorn zu bringen. Dass es noch viel zu tun gibt, bestätigt eine aktuelle Umfrage des Russisches Verbands der Industriellen und Unternehmer (RSPP) und der PR-Agentur Fleishman Hillard Vanguard vom März 2020. Demnach schätzte etwa die Hälfte der befragten ausländischen Unternehmen das Investitionsklima im Jahr 2019 als negativ ein.
Die Regierung möchte potenzielle Investoren mit einem Investitionsschutzabkommen (SZPK) anlocken. Dazu hat Präsident Putin am 1. April 2020 das föderale Gesetz zum Schutz und zur Förderung von Investitionen unterzeichnet. Zwar stiegen die Bruttoanlageinvestitionen 2019 um 1,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf etwa 266,6 Milliarden Euro. Doch dieser Wert ist zu gering, um die ambitionierten Wachstumsziele Russlands zu erreichen. Bis 2024 sollten die Anlageinvestitionen jährlich um mindestens 5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr steigen. Erschwerend hinzu kommt, dass infolge der Coronavirus-Krise Investitionen in neue Projekte aufs nächste Jahr verschoben werden.
Im Investitionsschutzabkommen garantiert eine Stabilitätsklausel unter anderem unveränderliche steuerliche Rahmenbedingungen für einen Zeitraum von 6 bis zu 20 Jahren - abhängig von der Höhe der Investitionssumme, die von 250 Millionen Rubel bis zu 10 Milliarden Rubel variieren kann. Der niedrige Mindestbetrag soll auch kleinen und mittleren Betrieben einen Abschluss ermöglichen. Das Investitionsschutzgesetz tritt am 1. April 2020 in Kraft - mit Ausnahme von Artikel 5, Abschnitt 1-5, und Artikel 11, die am 1. April 2021 in Kraft treten werden. Doch auch Projekte, die ab dem 7. Mai 2018 begonnen worden waren, können rückwirkend mit einbezogen werden (Seite 4 des Gesetzes).
Die Regierung hofft, pro Jahr bis zu 150 Abkommen im Wert von bis zu 10 Billionen Rubel abzuschließen. Das geplante staatliche Informationssystem „GIS Investment“ soll als elektronischer Wegweiser für Investoren dienen. Zur Akquise hat das Industrieministerium einen neuen Online-Leitfaden auch in deutscher Sprache herausgegeben: https://gisp.gov.ru/invest/de/de-DE
Die neue Regierung will mit der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) endlich Ernst machen. Ministerpräsident Mischustin leitet persönlich die Kommission zur Entwicklung von KMU. Bis 2024 soll gemäß des nationalen Projekts der Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen an der Entstehung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 32,5 Prozent steigen. Doch zwischen 2016 und 2019 sind etwa 1,5 Millionen KMU vom Markt verschwunden, vor allem wegen der gestiegenen Steuerlast. Zudem gefährdet die Coronavirus-Pandemie viele kleine und mittlere Unternehmen existenziell. Als Sofortmaßnahme beschloss die Regierung, Steuerstundungen und vergünstigte Kredite für KMU.
Zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen sollen verstärkt die Industrie- und Handelskammern (TPP) herangezogen werden. Dort erhalten KMU die Möglichkeit, von regionalen und kommunalen Unterstützungsmaßnahmen zu profitieren. Auch Einzelunternehmer und Selbstständige sollen mehr Hilfe in Form von Zugang zu vergünstigten Krediten oder Leasingprogrammen, beim Eigentumserwerb, sowie durch die vereinfachte Teilnahme an Ausschreibungen von Großunternehmen und Staatskonzernen erhalten.
Ministerpräsident Mischustin, selbst studierter IT-Systemingenieur, will Erfindern digitaler Technologien unter die Arme greifen. Experimentelle Rechtsordnungen (regulatorische Sandkästen) sollen es ermöglichen, Innovationen in der Praxis bis zu drei Jahre testen zu können, ohne gegen bestehende Regelungen zu verstoßen. Ein entsprechendes Gesetz brachte die Regierung am 19. März 2020 in das russische Parlament (Duma) ein. In acht Bereichen sollen Neuerungen getestet werden dürfen, darunter Medizin, Verkehr, Fernunterricht, Handel, Finanzmarkt, Architektur und Bauwesen, Industrie und öffentliche Dienstleistungen. An digitalen Pilotprojekten können sowohl große als auch kleine und mittlere Firmen, sowie Einzelunternehmer, Behörden und Kommunalverwaltungen teilnehmen.
Die Regierung will Unternehmer vor übermäßiger Strafverfolgung schützen. Das russische Parlament hat am 19.03.2020 Änderungen des Strafgesetzbuches angenommen, um bestimmte Geschäftshandlungen zu entkriminalisieren. Es wurde die Möglichkeit der Sicherheitsbehörden eingeschränkt, Unternehmen als kriminelle Vereinigung oder wegen Verstößen gegen die Devisenkontrolle zu belangen. Im Jahr 2019 stieg die Zahl der Strafanzeigen gegen Unternehmen um mehr als ein Drittel auf 317.627 Fälle, berichtet der Business-Ombudsmann Boris Titow. Nur etwa 45 Prozent der Fälle landen tatsächlich vor Gericht. Die Mehrheit der Fälle wird aus kaum nachvollziehbaren Gründen wieder eingestellt.
Ministerpräsident Mischustin will die Kontroll- und Aufsichtsbehörden reformieren und auf Effizienz trimmen. Mit Hilfe einer "regulatorischen Guillotine" sollen bis 2021 alle Anforderungen die Wirtschaft betreffend überarbeitet und aktualisiert werden. Veraltete Rechtsakte sollen annulliert, die Interaktion zwischen Staat und Unternehmen erleichtert werden. Dazu beitragen sollen vor allem die Digitalisierung der administrativen Prozesse und eine effektivere Abstimmung von Rechtsakten zwischen den beteiligten Behörden.
Zur Verbesserung des Geschäftsklimas wies Premierminister Mischustin die Regierung zudem an, die Verhandlungen mit der OECD zu einem Beitritt Russlands wieder aufzunehmen. Diese waren 2014 im Zuge der Ukrainekrise auf Eis gelegt worden.