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Interview | Europäische Union | 20 Jahre EU-Osterweiterung

"Der Osten der EU hat heute eine stärkere Stellung in der Union"

Mittelosteuropa hat seit dem EU-Beitritt an Profil gewonnen. Der Politologe Kai-Olaf Lang skizziert im Interview, wie sich die Erfolgsgeschichte künftig fortsetzen ließe.

Von Fabian Möpert | Berlin

Dr. Kai-Olaf Lang, Senior Fellow Forschungsgruppe EU/Europa bei Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Dr. Kai-Olaf Lang, Senior Fellow Forschungsgruppe EU/Europa bei Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) | © privat

Die mittelosteuropäischen Staaten haben seit ihrem EU-Beitritt 2004 deutlich an Wirtschaftskraft gewonnen. Und in den europäischen Institutionen finden Stimmen aus dem Osten der EU heute mehr Gehör. Letzteres nicht zuletzt auch deshalb, weil die geopolitische Zeitenwende den Fokus gen Osten gelenkt hat. Entwicklungen in der östlichen Nachbarschaft der EU erfahren mehr Aufmerksamkeit. 

Der Politikwissenschaftler Kai-Olaf Lang ist ein Kenner der Region und forscht für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) unter anderem zur EU-Erweiterungspolitik. Im Interview mit Germany Trade & Invest ordnet er den wirtschaftlichen und politischen Bedeutungsgewinn Mittelosteuropas ein und skizziert Voraussetzungen, wie eine künftige EU-Erweiterung gelingen kann.

Herr Lang, wie hat sich die Rolle der mittelosteuropäischen EU-Mitglieder in den zurückliegenden Jahren verändert?

Die meisten Länder, die 2004 Mitglieder der EU wurden, haben relativ schnell ihren politischen Betriebsmodus geändert: Vor dem Beitritt mussten sie Regeln annehmen und umsetzen, nach dem Beitritt wollten sie auch mitbestimmen. Einige Länder hoben gerne das Stoppschild hoch, manche versuchten die Dinge sanft mitzugestalten, andere schwammen mit dem Strom. In wichtigen Politikfeldern wurden die ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten zu "Experten" oder Vorreitern, manchmal aber auch zu Partnern, die schlicht nicht umgangen werden können.

Können Sie dies anhand von Beispielen erläutern?

Diese Entwicklung können wir in der europäischen Energiepolitik, bei der Fortentwicklung des Binnenmarkts und natürlich in der Migrationspolitik beobachten. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat verdeutlicht, dass die Länder im östlichen Teil der EU sich mit ihren Argumenten zwar lange Zeit nicht durchsetzen konnten. Nun spielen sie in Fragen der Ost-, Erweiterungs- und Sicherheitspolitik eine Schlüsselrolle. Bei der Diversifizierung im Energiesektor waren Länder wie Polen oder die baltischen Staaten schon vor dem Krieg weit vorangeschritten. Denken wir aber auch an die tschechische Initiative zum Kauf von Geschossen für die Ukraine.

Mittelosteuropa hat also politisch und wirtschaftlich an Gewicht gewonnen?

Der neue geopolitische Kontext erfordert mehr Aufmerksamkeit für die Entwicklungen im Osten der EU. Mit Blick auf die von Russland ausgehenden Bedrohungen bekommen die Länder neue Funktionen für die Union in Sachen Sicherheit, Infrastruktur und Logistik. Gleichzeitig bleiben sie an vorderster Front verwundbar und benötigen die Unterstützung nicht nur der USA, sondern auch der Partner in der EU. Insgesamt haben die Staaten, die 2004 und später beitraten, heute natürlich eine stärkere Stellung in der Union als noch vor wenigen Jahren. Politisch wurden sie selbstbewusster, wirtschaftlich verstärkte sich ihre relative Position etwa gegenüber dem "Süden" in der EU.

Welche Lehren lassen sich aus der EU-Erweiterung von 2004 und den Folgejahren für Erweiterungsrunden in der Zukunft ziehen?

Ich würde auf drei Aspekte hinweisen: Erstens muss die Erweiterung solide vorbereitet werden. Großbaustellen wie der Abbau von Korruption und das Etablieren einer "guten Regierungsführung" sind konsequent anzugehen. Das gilt mit Blick auf den Zustand von Politik, Verwaltung und Justiz in einigen der Beitrittsaspiranten. Eventuell sollten diese Reformen auch stärker "konditioniert" werden, also als harte Bedingungen für Fortschritte im Beitrittsprozess verstanden werden. Zweitens muss Erweiterung auch nachbereitet werden. Die EU muss ihr Kontrollinstrumentarium ausbauen, um ein rechtsstaatliches Zurückschlittern, aber auch mögliche Verzerrungen im Binnenmarkt anzugehen. Zur Nachbereitung gehört auch, dass neue Mitglieder nach dem Beitritt weiter an einer vollständigen Integration arbeiten. Sie sollten sich also auf das Auslaufen von Übergangsfristen vorbereiten und mittel- bis langfristig Kurs halten, was Projekte wie den Schengen-Raum oder die Gemeinschaftswährung angeht. Und drittens muss die EU die notwendigen internen Reformen ihrer Arbeitsweise und Entscheidungsmechanismen vor der Erweiterung vollzogen haben, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern.

Welche Situationen sollten bei künftigen Erweiterungen möglichst vermieden werden?

In der Anfangsphase ist ein kluges Integrationsmanagement zum Interessenausgleich erforderlich. In Fragen der Arbeitnehmerfreizügigkeit öffneten 2004 einige EU-Länder, darunter das Vereinigte Königreich, ihre Arbeitsmärkte sofort. Sie waren dann aber politisch und gesellschaftlich damit überfordert. Dort, wo man die Personenfreizügigkeit andererseits hinausschob, klagte man später über Fachkräftemangel. Man wird vielleicht zielgerichtete und flexible Übergangsfristen brauchen. Die Proteste von Bauern oder Spediteuren in Polen und anderen Staaten an der EU-Außengrenze zeigen, wie brisant diese Fragen innenpolitisch sind.

Worin sehen Sie geeignete Vorstufen zu einer späteren EU-Vollmitgliedschaft?

Teils wird mit modernen Freihandelsabkommen, sektoraler Integration und anderen Maßnahmen schon vor der Mitgliedschaft eine weitreichende Einbindung in den EU-Binnenmarkt erreicht. Dies hilft auch bei der Vorbereitung für die Umsetzung von EU-Recht. Wichtig ist ferner, dass im Rahmen der finanziellen Heranführungshilfen für Kandidatenländer der Mittelabfluss regelkonform und reibungslos funktioniert. Dabei geht es nicht nur um die Kontrolle von Korruption, sondern auch darum, Verwaltungen aufzubauen, die die Verfahren kennen. Das Prozedere wird tendenziell komplexer.

Beim Binnenmarkt ist zu berücksichtigen, dass er sich weiterentwickelt hat. Die vollständige Integration wird daher weder für einzelne Unternehmen noch für die Volkswirtschaften insgesamt einfacher. Denken wir an den Green Deal oder Vorgaben für Lieferketten. Künftige Beitrittsländer müssen also gut gewappnet sein, um dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten und den rechtlichen Besitzstand der EU gerade auch in Wirtschaftsfragen umzusetzen.

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