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Wirtschaftsumfeld | EU | Taxonomie

Grüne Atomkraft und Erdgas entfachen heiße Diskussion in Brüssel

Die EU-Kommission will Erdgas und Atomkraft in ihrer Taxonomie als nachhaltig verankern. Der vorgelegte Entwurf erhält im Rat und EU-Parlament viel Gegenwind.

Von Heike Hoffmann | Brüssel

Bereits zum Jahresende 2021 machte es die Runde, am 02.02.2022 war es dann offiziell und liegt seit dem 10.03.2022 auf dem Verhandlungstisch: Die EU-Kommission schlägt vor, die Nutzung von Atomkraft und Erdgas als nachhaltig einzustufen. So will sie zum Ausstieg aus schädlicheren Energieträgern beitragen, den Green Deal umsetzen und Klimaneutralität bis 2050 erreichen.

Dazu soll die Energieerzeugung durch Atomkraft und Erdgas nun auch Teil der sogenannten EU-Taxonomie sein. Das ist ein verbindlicher Klassifizierungsstandard der EU, der festlegt, welche Wirtschaftsaktivitäten in welchem Maße "grün" sind. Die EU will mit der Taxonomie zu nachhaltigen Investitionen und Geschäftspraktiken anregen. Finanzkommissarin Mairead McGuinness unterstrich: „Wir haben strenge Bedingungen präsentiert, die zur Mobilisierung von Kapital für den Ausstieg aus schädlicheren Energieträgern wie Kohle beitragen. Und wir stärken die Markttransparenz, damit Anleger bei Investitionsentscheidungen erkennen können, ob Gas- oder Kernenergietätigkeiten im Spiel sind."

Atomkraft und Erdgas als Übergangstechnologie

Formal ist dieser Kommissionsvorstoß ein ergänzender delegierter Rechtsakt. Er ist ergänzend, weil er den zweiten Teil der Klimataxonomie darstellt. Der erste Teil wurde bereits im April 2021 von der EU-Kommission vorgeschlagen und von allen EU-Institutionen unterstützt. Er deckt die Klimaziele eins und zwei der sechs EU-gesteckten Umweltziele unter der Taxonomie ab: Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel.

Über die Einordnung von Atomkraft und Erdgas bestand Uneinigkeit. Somit wurden diese Energiequellen zunächst ausgeklammert und im aktuellen Rechtsakt aufgegriffen. Sowohl Erdgas als auch Atomkraft will die EU-Kommission nun als Übergangstechnologien einstufen, die unter das grüne Label fallen.

Einstufung von Aktivitäten der Wirtschaft laut Taxonomieverordnung

Einstufung der Wirtschaftsaktivität

Firmen und Sektoren als Beispiele

(Rechtsquelle in EU-Taxonomieverordnung)

Klassisch (grün; CO2-arm)

Unternehmen, die Windkraftanlagen betreiben (Art. 10 Abs. 1)

Ermöglichende Tätigkeiten

Unternehmen, das Rotoren für Windräder herstellt (Art. 16)

Übergangsaktivität

Technologien, die nötig sind, um klimaneutral zu werden – danach aber nicht mehr. Dies sind Tätigkeiten, für die es noch keine Technologien und wirtschaftlich machbaren CO2-armen Alternativen gibt, die aber unter strengen Auflagen einen Beitrag zum Klimaschutz leisten und das Potenzial haben, eine wichtige Rolle beim Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft im Einklang mit den Klimazielen und Verpflichtungen der EU zu spielen, ohne die Investitionen in erneuerbare Energien zu verdrängen. Beispiele: Gas- und Atomkraftwerke (Art. 10 Abs. 2)

Quelle: EU-Kommission 2022

Dabei gelten strikte Bedingungen: Kernenergietätigkeiten müssen die Anforderungen an die Umwelt- und nukleare Sicherheit erfüllen, Gastätigkeiten zum Umstieg von Kohle auf erneuerbare Energieträger beitragen und beide Energiearten den Übergang zur Klimaneutralität fördern.

Verfahrensfrage am Pranger

Die Kritik an dem grünen Label für Atomkraft und Erdgas zieht sich durch alle politischen und nationalen Lager. Befürchtet wird ein Reputationsverlust der EU, die damit ihre eigenen Klimaziele untergräbt. Viele Umweltschutzexperten und auch Bürgerinitiativen sehen beide Energiequellen als nicht nachhaltig an. Außerdem müssten die beiden umstrittenen Energiequellen gar nicht in die Taxonomie aufgenommen werden: Jedes EU-Land könnte weiterhin Atomkraft als auch Erdgas nutzen – dann aber ohne Nachhaltigkeitsstempel.

Stark bemängelt wird auch, dass das administrative Verfahren der politischen Tragweite nicht gerecht werde. Hier richtet sich die Kritik gegen das Format des delegierten Rechtsakts. Ein delegierter Rechtsakt ist nicht Teil der ordentlichen Gesetzgebung der EU. Seine Besonderheit: Er muss nicht von allen EU-Institutionen offiziell beschlossen werden, sondern beinhaltet nur einen Prüfungszeitraum. Dies bedeutet, dass der Europäische Rat und das EU-Parlament je vier und bei möglicher Verlängerung zwei weitere Monate Zeit haben, den Vorschlag der Kommission zu prüfen, Einwände vorzubringen und den Vorschlag zu stoppen. Da die Tragweite der Entscheidung dauerhaft sehr relevant für die EU ist, fordern viele Rechtsexperten und EU-Parlamentarier eine ordentliche Gesetzgebung zur Taxonomie. Hier müssten alle Institutionen aktiv zustimmen, statt nur ablehnen zu können.

Der Rechtsakt wurde dem EU-Parlament und dem Rat offiziell am 10.03.2022 vorgelegt. Die Frist läuft somit vorerst bis 11.07.2022. Wenn kein Widerspruch erfolgt, gilt die vorgeschlagene Regelung ab 01.01.2023. Ein Widerspruch ist an bestimmte Ablehnungsmehrheiten gebunden.

Notwendige Mehrheiten zur Ablehnung je Institution

Institution

Ablehnungsmehrheit

Kriterien

benötigte Stimmenzahl

Europäischer Rat (Staats- und Regierungschefs, kurz Rat)

Verstärkte qualifizierte Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten

Mindestens 72% der Mitgliedstaaten und 65% der Bevölkerung der EU

Mindestens 20

EU-Parlament

Einfache Mehrheit

Mehr als 50% der Stimmen der EU-Abgeordneten

Mindestens 353

Quelle: EU-Kommission 2022


Im Rat ist nicht mit einer Ablehnungsmehrheit zu rechnen, obwohl Österreich und Luxemburg bereits eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof in Betracht ziehen. Meist richtet sich die Haltung eines Mitgliedstaats nach seinem individuellen nationalen Energiemix. So steht Deutschland der Atomkraft kritisch gegenüber, während Frankreich diese Energiequelle nutzt und weiter ausbauen möchte. Im EU-Parlament überwiegen die Kritiker, und eine Ablehnungsmehrheit schien laut Insidern bis vor kurzem zum Greifen nah. Hier wird vor allem bemängelt, dass die Abgeordneten nur informiert, nicht aber konsultiert wurden.

Wegen der aktuellen weltpolitischen Lage wird der Ruf der EU nach Energieunabhängigkeit und strategischer Autonomie lauter. Dies könnte im Endeffekt für eine Annahme des ergänzenden delegierten Rechtsakts zur Klimataxonomie ausreichen. Dies gilt umso mehr, da die Taxonomie Atomkraft und Erdgas auch deshalb umfassen soll, um neben Klimaschutz auch Preisstabilität und Versorgungssicherheit für Energie in der EU zu erreichen. Entscheidend wird auch der Ausgang der Präsidentschaftswahl in Frankreich im April sein.

Offenlegungspflicht für eine Vielzahl von Gas- und Nuklearaktivitäten

Auch in Deutschland müssen seit 2022 alle börsennotierten Wirtschaftsakteure mit mindestens 500 Beschäftigten offenlegen, wie nachhaltig sie die Klimaziele der Taxonomie umsetzen. Der Rechtsakt zu Atomkraft und Gas soll diese Transparenzverpflichtung ab 01.01.2023 auch auf Gas- und Kernenergietätigkeiten ausweiten. Der nun diskutierte Entwurf umfasst eine Vielzahl an Aktivitäten in diesem Bereich.

Vom Rechtsakt betroffene Gas– und Nuklearenergietätigkeiten

Betroffene Aktivitäten Gas

Betroffene Aktivitäten Nuklear

Stromerzeugung aus gasförmigen fossilen Brennstoffen

Forschung, Innovation und Bereitstellung von fortgeschrittenen Technologien mit geschlossenem Brennstoffkreislauf („Generation IV“), die auf die Verbesserung der Sicherheitsstandards und die Minimierung der Abfälle abzielen

Hocheffiziente Kraft-Wärme/Kälte-Kopplung mit gasförmigen fossilen Brennstoffen

Neue Kernkraftwerksprojekte zur Energieerzeugung (Elektrizität oder Hitze) mit den besten verfügbaren Technologien

Erzeugung von Wärme/Kälte mit gasförmigen fossilen Brennstoffen in einem effizienten Fernwärme- und Fernkältenetz

Änderungen und Modernisierungen bestehender kerntechnischer Anlagen zwecks Laufzeitverlängerung bis 2040

Quelle: EU-Kommission 2022


Betriebe sollten in Startposition gehen: Ausweitung der Taxonomie kommt

Die verbleibenden Umweltziele Wasser, Kreislaufwirtschaft, Umweltschutz und Biodiversität will die EU-Kommission in einem weiteren delegierten Rechtsakt bis Mitte 2022 behandeln. Danach soll die Taxonomie auch für weitere Wirtschaftsbereiche gelten, beispielsweise den Finanzsektor und die Landwirtschaft. Auch eine soziale Taxonomie ist geplant, die etwa Menschenrechte betrachtet.

Auf den Internetseiten der EU-Kommission finden Sie weitere Informationen zur EU-Taxonomie und zu Form und Inhalt des ergänzenden delegierten Rechtsakts zu Atomenergie und Erdgas.

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