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Interview | Ungarn | 20 Jahre EU-Osterweiterung

"Ungarn strebt höhere Wertschöpfung an"

Ungarns EU-Beitritt jährt sich 2024 zum zwanzigsten Mal. Der frühere Chef von Siemens in Ungarn berichtet von der damaligen Aufbruchstimmung und kommentiert aktuelle Entwicklungen.

Von Kirsten Grieß

Dale A. Martin, Präsident, European University, Special 20 Jahre EU Osterweiter Dale A. Martin, Präsident, European University, Special 20 Jahre EU Osterweiter | © Szalai Adam

Die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns nach der Wende wurde maßgeblich durch ausländische Investitionen geprägt. Deutschland stand dabei an erster Stelle, insbesondere mit großen Ansiedlungen im Automobil- und Zulieferbereich. Siemens kam allerdings schon vor weit mehr als einhundert Jahren nach Ungarn – bereits 1887 lieferte der Konzern die erste Straßenbahn nach Budapest. Heute beschäftigt Siemens mehr als 4.000 Menschen im Land.

Dale A. Martin war zwischen 2010 und 2021 Vorstandsvorsitzender der Siemens Zrt. und ab 2013 für sechs Jahre Präsident der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer (DUIHK). Heute ist er Präsident von EELISA, einer europaweiten Universitätsallianz für Innovation, Engineering und Nachhaltigkeit.

Herr Martin, vor zwanzig Jahren trat Ungarn der EU bei. Wie war die Lage zu diesem Zeitpunkt?

Für Siemens kam ich zum ersten Mal 1992 nach Ungarn. Damals herrschte eine spürbare Aufbruchstimmung: Die Menschen orientierten sich am Westen, am Nachbarland Österreich und an Deutschland, die als Vorbild galten. Die Beitrittsverhandlungen zur EU und dann 2004 der Beitritt selbst stärkten die positive Grundstimmung. Die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts mit neuen wirtschaftlichen und auch persönlichen Freiheiten eröffnete zahlreiche neue Möglichkeiten und versprach langfristige Stabilität. Geografisch und kulturell bestand immer eine enge Verbindung zu Deutschland - was sich auch frühzeitig in einer ganzen Reihe deutscher Investitionen manifestierte.

Sie wechselten 2010 wieder nach Ungarn. Wie war dann die Situation für deutsche Unternehmen?

Ab 2010 gestaltete sich die Lage etwas herausfordernder. Die internationale Finanzkrise hatte Ungarn aufgrund struktureller Probleme stark getroffen. Zur Konsolidierung des Staatshaushalts griff die zweite Regierung Orbán ab 2011 zu zahlreichen schmerzhaften Sondermaßnahmen.

Sie sprechen von den umstrittenen Sondersteuern. Welche Sektoren waren betroffen, und wie gingen die Unternehmen damit um?

Zu dem Zeitpunkt handelte es sich insbesondere um Sondersteuern für die Telekommunikation, die Energiewirtschaft, den Lebensmitteleinzelhandel und die Bankenwirtschaft. Mit den Maßnahmen sollte der finanziellen Schieflage Ungarns begegnet werden. Interessant war, dass Premierminister Orbán damals bei internationalen Unternehmen auf ein gewisses Verständnis bauen konnte. Es dominierte der Wille, Ungarn aus einer schwierigen wirtschaftlichen Situation zu führen. Dabei blieb der wesentliche Standortvorteil erhalten: Die ausreichende Verfügbarkeit von gut qualifiziertem und wettbewerbsfähigem Personal. 

Was macht ungarische Arbeitskräfte zu einem so wichtigen Asset?

Ich kenne konkrete Beispiele, dass in manchen Teilbereichen unsere ungarischen Mitarbeiter nahezu doppelt so effizient arbeiten als an anderen Standorten - auch ohne den damaligen Lohnkostenvorteil. Aus meiner Sicht sind ungarische Mitarbeiter flexibel und motivationsfähig, sie möchten Sachen erledigen - und der Erfolg erhöht diese Motivation. Daher investieren deutsche Unternehmen vor Ort bereits seit Jahren erfolgreich in Kooperationen mit lokalen Hochschulen und in duale Ausbildungsprojekte.

Welche Rahmenbedingungen haben sich seit dem EU-Beitritt Ungarns 2004 verändert?

Persönlich kann ich das erst ab 2010 beurteilen. In meiner Zeit als Präsident der Deutsch-Ungarischen Industrie und Handelskammer habe ich die ungarische Bereitschaft zu einem offenen und konstruktiven Dialog sehr geschätzt. Es gab feste Gesprächskreise mit dem Wirtschaftsministerium und anderen Ressorts, in denen konkrete Anliegen erörtert und oft auch gelöst werden konnten. In den vergangenen Jahren und besonders nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine gab es wieder vermehrt staatliche Eingriffe und neue Sondersteuern. Verändert haben sich auch die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt: Ab 2015 wurden Arbeitskräfte knapper. Das ist zwar kein allein ungarisches Phänomen, es ist hier aber zusammen mit stark steigenden Lohnkosten eine enorme Herausforderung für Unternehmen.

Wie attraktiv ist Ungarn heute für deutsche Firmen?

Heute investieren Unternehmen nicht mehr aufgrund des Lohnniveaus in Ungarn. Man muss das komplexe Geflecht aus EU-Mitgliedschaft, geografischer Nähe zu Deutschland, guter Infrastruktur, gut ausgebildeten und motivierbaren Mitarbeitern, günstigen Unternehmenssteuern und staatlicher Förderpolitik als Ganzes betrachten. Wenn man diese Elemente addiert, ist eine Ansiedlung in Ungarn weiterhin interessant.

Ungarn setzte lange auf die Automobilindustrie, jetzt ist es die Elektromobilität. Ist das die richtige Strategie?

Der Aufbau der ungarischen Automobilindustrie war und ist ein großer Erfolg. Der Durchbruch begann mit der Großinvestition von Audi vor 30 Jahren, dann kamen das Mercedes-Werk und jetzt BMW hinzu. Da ist es konsequent, als Automobilstandort den Umstieg auf Elektromobilität mitzugestalten und entsprechende Projekte zu fördern. Allein am Export der Automobilbatterien hängt 1 Prozent des ungarischen Wirtschaftswachstums, was bei der derzeitigen, geringen Wachstumsdynamik eine nicht unwesentliche Größe ist. Um sich darüber hinaus zu diversifizieren, fördert Ungarn seit einigen Jahren gezielt Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren. Für viele ist es eine logische Weiterentwicklung, die bestehenden Fertigungskapazitäten qualitativ auszuweiten. Denn: Ungarn möchte sich - wie viele andere Länder auch - hin zu höherer Wertschöpfung entwickeln.

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