Wirtschaftsumfeld | Indien | Verhandlungspraxis
Kultureller Hintergrund
Indien ist ein Land von immenser Vielfalt. Vor Unbekanntem muss man aber nicht zurückschrecken: Die Einheimischen helfen Reisenden gerne und übergehen kleinere Fehltritte.
02.10.2023
Von Florian Wenke | Mumbai
Indien ist flächenmäßig das siebtgrößte Land der Erde und verfügt seit Frühjahr 2023 über die größte Bevölkerung weltweit. Die vielen jungen Menschen – das Medianalter liegt unter 30 Jahren – prägen das Land. Sie richten ihren Blick in die Zukunft und sorgen für eine hohe Entwicklungsdynamik. Chancen werden oft stärker als Risiken gewichtet, und die Bevölkerung ist offen für Veränderung. Die Vergangenheit wird dennoch geschätzt, und die Menschen sind stolz auf die Jahrtausende alte Zivilisationsgeschichte des Subkontinentes. Gesprächspartner würdigen Interesse an der Kulturgeschichte und den Traditionen des Landes. Kritik an den Landesverhältnissen kommt weniger gut an, denn der Nationalstolz ist groß, und es gibt unterschiedliche Meinungen.
Viele Welten in einer Nation
Für ungeübte Betrachter wirkt Indien oft chaotisch. Die Ordnung hinter den Dingen erschließt sich vielen Besuchern erst auf den zweiten oder dritten Blick. Vielfalt ist ein zentrales Merkmal des Landes. Gästen gegenüber wird großer Respekt und Güte entgegengebracht. Wenn Besucher aus Deutschland Verständnisprobleme haben, können sie einfach nachfragen. Inder erklären bereitwillig Hintergründe und Bedeutungen. Nachfragen wird überwiegend als Interesse gedeutet.
Indien ist ein Vielsprachenstaat mit 22 Amtssprachen. Hinzu kommen mehrere hundert lokale Sprachen und unzählige Dialekte. Viele Personen sind mehrsprachig. Interesse an Sprache wird geschätzt: Bereits einige Worte oder Sätze in der jeweiligen Regionalsprache werden von Indern wohlwollend aufgenommen. Dabei wird auch großzügig über Fehler in der Aussprache hinweggesehen. In der Geschäftswelt wird viel Englisch gesprochen. Die Englischkenntnisse der gebildeten Schichten sind exzellent. Dies erleichtert die internationale Verständigung.
Die regionalen Identitäten sind stark ausgeprägt. Besucher sollten sich daher bewusst sein, in welchem Landesteil sie sich befinden und aus welchem Landesteil ihr indischer Gesprächspartner stammt. Grundkenntnisse der indischen Geografie sind gerne gesehen.
Indien ist Heimat zahlreicher Religionen – Hinduismus, Islam, Buddhismus, Christentum, Sikhismus, Jainismus und Parsismus sind nur einige der vorhanden Religionsgruppen. Dies führt zu einer Vielzahl an Feiertagen im Land. Einige davon gelten national, andere nur regional und weitere sind optional. Glückwünsche via Karte, aber mehr noch per E-Mail und Messaging-App sind üblich. Religion ist auch in der Geschäftswelt allgegenwärtig. Religiöse Zeremonien zur Geschäftseinweihung oder der Segnung neuer Maschinen sind im ganzen Land verbreitet und für die lokalen Arbeitnehmer extrem wichtig. Außerdem findet sich in nahezu jedem Unternehmen ein kleiner Schrein.
Familienstrukturen prägen die Unternehmenswelt
Reisende treffen auf sehr unterschiedliche Sitten, Gebräuche, Verhaltensweisen und Mentalitäten. Die Gesellschaftsregeln in abgelegenen Städten und Regionen sind traditioneller als in den Metropolen des Landes. Aber auch in letzteren sind die Wertevorstellungen überwiegend konservativer als in Deutschland.
Eine Trennlinie verläuft in der Geschäftswelt zwischen jungen, international geprägten Managern und konservativen Unternehmenspatriarchen. Manager, die längere Zeit im westlichen Ausland gearbeitet haben, sind mit internationalen Gepflogenheiten bestens vertraut und agieren entsprechend. In der Start-up-Szene ist dieser Typus häufiger anzutreffen. Die mittelgroßen, oft traditionsreichen Industriebetriebe und Handelshäuser besitzen häufig eine familienbasierte Führungsstruktur. Eine hierarchische Ordnung und das Senioritätsprinzip gelten sowohl innerhalb der Familie als auch in den Organisationen. An deren Spitze stehen oft Patriarchen, die mit riesigen Büros, Auszeichnungen und anderen Symbolen ihre Position markieren. Gute Manieren und große Freundlichkeit sind hier geboten, jedoch ohne zu unterwürfig aufzutreten.
Angestellte in Unternehmen haben klare Tätigkeitsbereiche und überschreiten ihre Kompetenzen selten. Darunter leidet die Eigeninitiative. Entscheidungsbefugnisse sind auf oberen Hierarchieebenen konzentriert. Geschäftsleute sollten immer die richtigen Entscheider direkt ansprechen, um Gespräche und Entscheidungen anzustoßen.
Kommunikation findet auf vielen Ebenen statt
In Indiens Unternehmenslandschaft sind deutsche Produkte verbreitet. Man schätzt die Qualität, weiß aber auch um den vergleichsweise hohen Preis. Zudem kennen immer mehr Inderinnen und Inder Deutschland von eigenen Besuchen – egal ob beruflich, privat oder auf der Durchreise. Das Deutschlandbild ist überwiegend positiv.
Die Euphorie ist bei ersten Gesprächen immer groß. Vieles wird ausgeschmückt und die indischen Gesprächspartner schweifen in eine rosige Zukunft ab. Wird technischen Details und finanziellen Angaben ausgewichen und nur das eigene Netzwerk gelobt, sind Zweifel angebracht. Das Gegenüber sollte seine Fähigkeiten skizzieren, Erfahrungen und branchenübliche Lösungen vortragen können.
Neben der verbalen und schriftlichen Kommunikation nimmt die Körpersprache einen hohen Stellenwert ein. Die Interpretation bestimmter Gesten ist dabei nicht immer klar. Das Kopfwackeln beziehungsweise Kopfkreisen ist als Geste weit verbreitet, hat aber – je nach Kontext – unterschiedliche Bedeutungen. Meist wird damit ausschließlich Verständnis ausgedrückt, oft auch Zustimmung. Geschäftsreisende müssen sich an wenig körperliche Distanz gewöhnen. Dinge wie Schulterklopfen oder langes Händeschütteln kommen regelmäßig vor.