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Interview | Europäische Union | 20 Jahre EU-Osterweiterung

"Von der EU-Osterweiterung haben beide Seiten profitiert"

Die Ökonomin Zuzana Zavarská forscht am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche zu Mittel- und Osteuropa. Im Interview zieht sie Bilanz zur EU-Osterweiterung.

Von Fabian Möpert | Berlin

Zuzana Zavarská, Wirtschaftswissenschaftlerin, Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) Zuzana Zavarská, Wirtschaftswissenschaftlerin, Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) | © Zuzana Zavarská

Im Jahr 2004 traten Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen der EU bei. Ihnen folgten 2007 Bulgarien und Rumänien sowie 2013 Kroatien. Die Effekte der wirtschaftlichen Integration der Länder in den Binnenmarkt sind Gegenstand der Forschung von Zuzana Zavarská, Wirtschaftswissenschaftlerin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Die gebürtige Slowakin analysiert vor allem die Rolle der Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn in globalen Wertschöpfungsketten und die Bedeutung ausländischer Direktinvestitionen für die Region. Im Interview mit Germany Trade & Invest spricht sie über Gewinner und Verlierer des europäischen Integrationsprozesses sowie die Zukunft der EU.

Frau Zavarská, war die Osterweiterung der EU ein Erfolg?

Es gibt verschiedene Wege, dies zu bewerten. Eine wichtige Betrachtungsweise ist der Blick auf das Wirtschaftswachstum. Nach ihrem EU-Beitritt haben sich die neuen Mitgliedstaaten rasch angenähert: In weniger als einer Generation haben sich Länder wie Lettland, Litauen oder Rumänien von einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von nur 30 bis 40 Prozent des Niveaus der alten Mitgliedstaaten auf heute 70 bis 85 Prozent hochgearbeitet. 

"Tschechien und Slowenien sind heute wirtschaftlich praktisch genau so weit entwickelt wie die meisten westeuropäischen Volkswirtschaften."

Dies ist eine bemerkenswerte Leistung und spricht Bände über den Nutzen der EU-Erweiterung für die Neumitglieder.

Fällt das Fazit für die alten EU-Länder ebenso positiv aus?

Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte beschränkt sich nicht auf die neuen Mitgliedstaaten. Auch für die alten Mitgliedsländer war die Erweiterung ein Gewinn. Vom Integrationsprozess haben beide Seiten profitiert. Man kann zurecht sagen, dass der Binnenmarkt eine der wichtigsten Triebkräfte für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit der EU ist. Unternehmen aus Westeuropa haben von der gesteigerten Effizienz profitiert, indem sie ihre Produktion dort ansiedelten, wo die Kosten niedriger waren. Und sie fanden neue Geschäftsmöglichkeiten in einem durch die bisherigen Erweiterungsrunden um mehr als 100 Millionen Menschen gewachsenen EU-Markt. Heute gehören Polen und Tschechien zu den zehn wichtigsten Handelspartnern Deutschlands.

Haben sich die mit dem Beitritt verbundenen Hoffnungen in den letzten 20 Jahren also erfüllt?

Die zentrale Erwartung an die Osterweiterung war ein wiedervereinigtes Europa, nachdem es jahrzehntelang durch den Eisernen Vorhang getrennt war. Die postkommunistischen Länder sahen darin ihre "Rückkehr nach Europa". Damit verbanden sie das Gefühl einer wiedergewonnenen europäischen Identität. Von der Union versprach man sich wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Vorteile für alle Mitgliedstaaten. In einem zunehmend turbulenten geopolitischen Umfeld gewinnt dies umso mehr an Bedeutung: Jüngste EU-Umfragen belegen, dass über 70 Prozent der EU-Bürger die EU als Ort der Stabilität in einer unruhigen Welt sehen. Die Mehrheit der Befragten (87 Prozent) fühlt sich als Bürger der EU. Dies deutet darauf hin, dass die EU-Erweiterung durchaus Ergebnisse in der erhofften Richtung gebracht hat, indem sie eine gemeinsame europäische Identität geschaffen hat und dem Kontinent geopolitische Sicherheit bietet.

Trotzdem gab es im Integrationsprozess auch Rückschläge, oder?

Ja, der Brexit ist hierfür ein prägnantes Beispiel. Eines der Hauptziele des europäischen Projekts ist die Förderung demokratischer Werte und institutioneller Reformen. Diese Aspekte haben sich in den letzten Jahren in einigen Teilen der EU verschlechtert – durch den Aufstieg des Populismus oder die Bedrohung der Unabhängigkeit der Justiz und der Medienfreiheit. Dies weckt Sorgen vor demokratischen Rückschritten. Es rüttelt am gemeinsamen Wertesystem, dem Grundpfeiler der EU.

In alten wie neuen Mitgliedstaaten war mit der Erweiterung auch so manche Befürchtung verbunden. Sind diese negativen Erwartungen eingetreten?

In den alten Mitgliedstaaten gab es Sorgen hinsichtlich des Verlusts von Arbeitsplätzen an billige Arbeitskräfte im Ausland. Die Beitrittsländer wiederum fürchteten Massenemigration und die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte auf der Suche nach Chancen und besserer Entlohnung im Westen. Es wäre naiv zu behaupten, dass sich keine dieser Befürchtungen bewahrheitet hat. Es gab gewisse Umverteilungseffekte, die eine ganze Reihe wirtschaftlicher Herausforderungen für die EU mit sich brachten. Die Realität jeder internationalen Integration – und der Globalisierung im Allgemeinen – ist, dass es trotz positiver Gesamtgewinne die Tendenz gibt, Gewinner und Verlierer zu erzeugen. Die europäische Integration bildet hier keine Ausnahme. Das erklärt, warum das Konzept der Kohäsionspolitik für die EU weiterhin so wichtig ist, und mit gut durchdachten Maßnahmen verfolgt werden muss.

Welche Schlüsse lassen sich für künftige Erweiterungsrunden ziehen?

Die Geschichte neigt dazu sich zu wiederholen. Nach Jahren der "Erweiterungsmüdigkeit" könnte der EU nun eine neue Erweiterungsrunde bevorstehen. Auch dieses Mal bestimmen geopolitische Motive und sicherheitspolitische Vorteile die Diskussion. Die Osterweiterung ist ein Beleg für die transformative Kraft der EU-Integration. 

"Ein glaubwürdiges Bekenntnis zum EU-Beitritt kann Länder mit schwachen Institutionen und Rechtssystemen zu Reformen motivieren."

Dies kommt auch ausländischen Investoren zugute, da es ein stabileres und berechenbares Geschäftsumfeld erzeugt. Die bisherigen Runden erinnern uns aber auch, dass dies kein einfacher Prozess ist. Auf Seiten der EU wird er große Veränderungen in der Arbeitsweise der europäischen Institutionen erfordern. Eine abermalige Erweiterung der EU würde unweigerlich neue wirtschaftliche Herausforderungen mit sich bringen, für alle Beteiligten. Die Erweiterung von 2004 ist jedoch ein überzeugendes Beispiel, dass die damit verbundenen Vorteile die Kosten aufwiegen.

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