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Special | Tschechische Republik | 20 Jahre EU-Osterweiterung

Tschechien: Der Musterschüler zeigt plötzlich Schwächen

Der EU-Beitritt Tschechiens war zwei Jahrzehnte lang ein Erfolgsmodell. Nun zeigen sich erste Bremsspuren, der Aufholprozess gerät ins Stocken. Neue Wachstumsideen sind gefragt.

Von Gerit Schulze | Prag

Tschechien galt lange als Musterschüler unter den EU-Neulingen: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) legte seit dem Beitritt zur Union im Jahr 2004 im Durchschnitt um 2,3 Prozent pro Jahr zu, die Staatsfinanzen waren im Lot, die Rechtssicherheit gewährleistet und die Infrastruktur auf gutem Niveau. So avancierte Tschechien zum Investorenparadies, besonders für deutsche Unternehmen. Der Bestand ausländischer Direktinvestitionen erreicht über 74 Prozent der Wirtschaftsleistung und damit deutlich mehr als in Polen (42 Prozent im Jahr 2021, Quelle: Eurostat).

Handelsvolumen größer als die Wirtschaftsleistung

Auch im Außenhandel spiegelt sich die Leistungskraft der kleinen Republik wider. Der Warenaustausch wuchs seit 2004 doppelt so schnell wie die Wirtschaftsleistung. Das Handelsvolumen lag 2023 bei 364 Milliarden Euro und übertraf das BIP um ein Fünftel. Die Exporte kletterten 2023 trotz Rezession auf den Rekordwert von fast 185 Milliarden Euro.

80 %

der tschechischen Exporte gehen in die EU.

Zur engen Verflechtung mit Europa haben auch die Fördermittel aus Brüssel beigetragen. Seit dem Beitrittsjahr bekam Tschechien netto über 40 Milliarden Euro mehr aus EU-Fonds, als es selbst in die Gemeinschaftskasse einzahlte. Mit dem Geld sanierte das Land Straßen und Schienenwege, glich regionale Ungleichgewichte aus, investierte in Bildung, Forschung und Umweltschutz. So rückte Tschechien in Sichtweite der westeuropäischen Wirtschaftskraft.

Bis zum Ausbruch der Coronapandemie kletterte die Wirtschaftskraft auf 93 Prozent des EU-Durchschnitts (BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten). Tschechien schnitt damit besser ab als alle anderen jungen EU-Mitgliedsländer der Region.

Pandemie ließ den Aufschwung stocken

Doch seit Covid-19 die Welt aus den Angeln hob, die Lieferketten rissen und Russlands Angriff auf die Ukraine die Energiepreise explodieren ließ, gerät Tschechiens Aufholjagd ins Stocken. Aufgrund der hohen Inflation hat es als einzige Volkswirtschaft der EU bis dato nicht die reale Wirtschaftsleistung erreicht, die es vor Ausbruch der Coronapandemie hatte. Das Niveau sank 2022 wieder auf 90 Prozent des EU-Durchschnitts.

Einstige Tugenden wie gesunde Staatsfinanzen sind mittlerweile passé. Im Jahr 2023 stieg die Verschuldung auf einen Rekordwert von fast 130 Milliarden Euro.

Auch die Auslandsinvestoren stehen nicht mehr Schlange. Die staatliche Investitionsförderagentur CzechInvest konnte 2023 nur zehn große Projekte vermitteln, darunter lediglich drei Neuansiedlungen. Der Großteil waren Investitionen in bestehende Fabriken.

Wird der einstige Musterschüler nun also zum Sorgenkind im europäischen Staatenbund? Sicherlich nicht. Denn Tschechien bleibt eine industrielle Großmacht. Seine Unternehmen bauen Flugzeuge, Eisenbahnen, Schwerlastwagen, Busse, Elektronenmikroskope und Kraftwerksturbinen, die in der ganzen Welt gefragt sind.

Die Beziehungen zwischen Tschechien und Deutschland sind so gut wie nie zu vor. Hieran haben unsere intensiven Wirtschafts- und Handelsbeziehungen großen Anteil. Es war die Wirtschaft, die die Annäherung bereits in den 1990er Jahren vorantrieb. Heute sind wir füreinander zentrale Handelspartner, unsere Wertschöpfungsketten sind aufs Engste miteinander verbunden. Durch gegenseitige Investitionen und gemeinsame Projekte können wir nicht nur unsere gemeinsamen Wirtschaftsräume optimieren, sondern auch Impulse für weitere Innovationen und Wachstum setzen.

Andreas Künne Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Tschechischen Republik

Zur industriellen Vielfalt kommt die Stärke der Regionen. Zwar sticht die Metropole Prag als wichtigstes Wirtschaftszentrum hervor. Doch das verarbeitende Gewerbe brummt in Ostrava, Plzeň und Brno. Südmähren ist ein Zentrum der Elektronik- und Flugzeugindustrie. Und Mittelböhmen boomt dank des Logistiksektors und der Automobilproduktion.

Ein massiver Strukturwandel steht dem Kohle- und Stahlrevier Mährisch-Schlesien sowie den Braunkohleregionen Ústí nad Labem und Karlovy Vary bevor. Vielleicht siedeln sich gerade dort die Technologien der Zukunft an. BMW betreibt seit Sommer 2023 bei Karlovy Vary seine modernste Teststrecke für autonomes Fahren. Und Mährisch-Schlesien ist für eine Gigafactory im Gespräch.

Mikrochips aus Mähren für deutsche Autos

Der Volkswagen-Konzern will künftig aus tschechischen Halbleiterwerken intelligente Energie- und Sensortechnologien für Elektroautos beziehen. Die Prager Regierung setzt auf die europäische Mikrochip-Förderung, um die Halbleiterbranche zu entwickeln. Es gibt bereits kleinere Chipfabriken und wichtige Zulieferer. Dazu gehört der Stuttgarter Anlagenbauer Exyte, der in Böhmen mehrere Fabriken für Reinraumumgebungen betreibt.

Die Halbleiterindustrie könnte den starken Fokus auf klassische Industriezweige wie den Automobilbau verringern. Die Förderagentur CzechInvest sucht jetzt gezielter Projekte zur Transformation der Wirtschaft und konzentriert sich auf die Mikroelektronik, Elektromobilität, Kreislaufwirtschaft, künstliche Intelligenz und neue Materialien.

Die großen Investitionen deutscher Unternehmen in den 1990er Jahren waren für Tschechien ein Modernisierungsschub mit hunderttausenden neuen Arbeitsplätzen. Der Beitritt zur EU und ihrem Binnenmarkt 2004 war ein Katalysator für diese dynamischen Beziehungen. Bis heute ist der Handel mit Deutschland das Zugpferd für den tschechischen Außenhandel, und immer mehr Unternehmen entdecken den deutschen Markt als Brücke in das globale Geschäft. Nutzen wir diese enge Verflechtung, um die riesigen Herausforderungen der Transformation gemeinsam zu meistern!

Bernard Bauer Geschäftsführender Vorstand AHK Tschechien

Rückstand bei Innovationen

Deutsche Investoren würden eine breitere Aufstellung der tschechischen Industrie begrüßen, meint etwa Thomas Gaßmann, Geschäftsführer des Logistikunternehmens Geis CZ, im Interview mit Germany Trade & Invest. Doch der Weg dahin ist weit. Im Europäischen Innovationsanzeiger 2023 wird Tschechien nur als "moderater Innovator" geführt. Bei Patenten, wissensbasierten Exporten und Forschungsausgaben ist der Rückstand zu Westeuropa groß. Gut schneidet das Land hingegen bei der Anwendung von IT-Technologien und bei öffentlich-privaten Partnerschaften ab.

3 Unicorns

hat Tschechiens Start-up-Szene hervorgebracht.

Als drittes Start-up erreichte die Prager Softwarefirma Mews im Frühjahr 2024 erstmals eine Bewertung von mehr als 1 Milliarde US-Dollar. Sie entwickelt Managementsysteme für Hotels. Zuvor hatten der Lieferdienst Rohlík und der Softwareentwickler Productboard diese Hürde genommen.

Viel Potenzial bietet der Energiesektor. Der geplante Ausbau des Kernkraftwerks Dukovany wird das größte Investitionsprojekt seit dem EU-Beitritt. Bei erneuerbaren Energiequellen ist dank Förderung aus Brüssel Goldgräberstimmung ausgebrochen. Die Prager Firma Raylyst Solar führt 2024 sogar die Liste der am schnellsten wachsenden Unternehmen in Europa an.

Gute Wachstumsaussichten hat die Biotechnologiebranche. Die Regierung sieht sie als wichtigen Innovationstreiber und will ausländische Arzneimittelhersteller dazu bewegen, Produktionskapazitäten in Tschechien anzusiedeln. Europa soll dadurch unabhängiger von Einfuhren aus Asien werden. Der Musterschüler Tschechien könnte seinem Ruf also bald wieder gerecht werden und diesmal bei Resilienz und Diversifizierung glänzen.

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