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Marktentwicklungen und -trends
Russlands Gesundheitsmarkt bleibt auf Wachstumskurs. Die Regierung beschränkt systematisch den Marktzugang für ausländische Anbieter. Wachsendes Potenzial bietet die Privatmedizin.
07.02.2022
Von Hans-Jürgen Wittmann | Moskau
Russlands Markt für Medizinprodukte und -geräte soll im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 6 Prozent wachsen, erwartet das Beratungsunternehmen Business Profile. Im Vorjahr legte Russlands Medizintechnikmarkt um rund 5 Prozent zu, schätzt das Marktforschungsinstitut Meditex. Wachstumstreiber Nummer eins sind Importe von Medizintechnik, deren Anteil sich auf rund drei Viertel des Marktvolumens beläuft. Laut einer Umfrage der Ärztevereinigung „Vrachi RF“ aus dem Jahr 2020 sind drei Viertel der befragten Fachärzte mit der Qualität der in Russland vorhandenen medizinischen Geräte nicht zufrieden. Zwei Drittel wollen die Einfuhren von Medizintechnik steigern.
Staatliche Beschaffung dominiert Medizintechnikmarkt
Rund 80 Prozent des Absatzes von Medizintechnik entfallen in Russland auf die öffentliche Hand. Im Jahr 2021 stieg der Anteil staatlicher Beschaffungen für Arzneimittel und Medizintechnik im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Drittel auf rund 7,5 Milliarden Euro (658 Milliarden Rubel, Jahresdurchschnittskurs der EZB für 2021: 1 Euro = 87,15 Rubel), fand der Rechnungshof heraus. Teilnehmer an staatlichen Ausschreibungen müssen den strengen Anforderungen an die Lokalisierung und Importsubstitution gerecht werden. Zudem erhalten russische Hersteller bei staatlichen Beschaffungen Preispräferenzen.
Für die öffentliche Hand sind Mindestquoten von Medizintechnik aus Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) festgelegt. Sie liegen bei durchschnittlich 50 bis 60 Prozent und werden kontinuierlich angehoben. Orthopädische Schienen müssen bis 2023 zu 50 Prozent aus einheimischer Fertigung stammen. Der Anteil lokaler Intraokularlinsen soll von 29 Prozent im Jahr 2021 bis 2023 auf 49 Prozent steigen.
Ausländischen Anbietern wird der Zugang zu Staatsaufträgen immer weiter erschwert. Ende August 2021 änderte die Regierung für bestimmte Medizinprodukte den Beschaffungsgrundsatz „drei sind einer zu viel“ auf „zwei sind einer zu viel“. Wenn ein russischer Hersteller an öffentlichen Ausschreibungen teilnimmt, sind ausländische Anbieter automatisch ausgeschlossen. Staatliche Kliniken dürfen Medizintechnik nur dann importieren, wenn es keine einheimischen Analoga gibt. Ärztevertreter fürchten eine Verknappung des Angebots und steigende Preise.
Daneben befeuert die „zwei sind einer zu viel“-Regelung die Konsolidierung der Branche. Der Beschaffungsmarkt ist von einer hohen Konzentration durch wenige große Anbieter geprägt. Die TOP-100-Liste der Lieferanten für staatliche Beschaffungen medizinischer Geräte dominierten im Jahr 2020 Strukturen der Staatsholding Rostec mit einem Gesamtauftragswert von rund 310 Millionen Euro, fand die Analyseagentur Vademecum heraus.
Sieben von zehn Lieferanten werden bei öffentlichen Ausschreibungen mit Korruption konfrontiert, fand die Higher School of Economics (HSE) in einer Umfrage von Ende Dezember 2021 heraus. Mehr als 80 Prozent der Befragten würden wegen des hohen Konkurrenzdrucks tatsächlich bezahlen. Im Jahr 2020 entrichteten Unternehmen, die sich an staatlichen Ausschreibungen beteiligten, rund 6,6 Billionen Rubel (rund 80 Milliarden Euro) an Schmiergeld. Diese Summe entspricht 6,2 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) und war höher als das Budget für das Gesundheitswesen mit rund 4,4 Billionen Rubel im Jahr 2020.
Markt für Privatmedizin bietet gute Absatzchancen
Die Nachfrage nach privaten medizinischen Leistungen wächst 2022 weiter. Im Jahr 2020 belief sich der private Gesundheitsmarkt auf rund 9,8 Milliarden Euro (811 Milliarden Rubel), analysiert PricewaterhouseCoopers (PwC). Bis 2025 soll die eine Billion-Rubel-Marke fallen, erwarten die Unternehmensberater. Wachstumstreiber Nummer eins sind die Labor- und Strahlendiagnostik. Mit der Zunahme der Zahl genesener Covid-19-Patienten steigt zudem die Nachfrage nach Rehabilitationsdiensten.
Die führenden Klinikketten weiten ihre Präsenz in den Regionen aus, eine weitere Konsolidierung ist die Folge. Im Dezember 2021 übernahm der Marktführer Medsi für rund 23,5 Millionen Euro die Klinikketten Promedizina und Dialine von „Nationalnaja Medicinskaja Set“. Der Fonds TealTech Capital investiert rund 6 Millionen Euro in die Entwicklung des Klinik-Netzwerks „Klinika Fomina“. In 10 Regionen sollen neue Reproduktionskliniken entstehen.
Rund ein Fünftel des Marktvolumens bei Medizintechnik entfällt auf die Privatmedizin. Deutschen Lieferanten bieten sich gute Absatzchancen, da private Kliniken weniger strengen staatlichen Vorgaben zu Lokalisierung und Importsubstitution unterliegen und weiterhin ausländische Medizintechnik beschaffen können.
Neubau medizinischer Einrichtungen steigert Nachfrage nach Medizintechnik
Staatliche und private Klinikketten planen in den kommenden Jahren den Bau oder die Modernisierung von Krankenhäusern und Polykliniken. Die MedInvestGroup (MIG) will bis 2026 rund 1,9 Milliarden Euro im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) in den Bau von 14 medizinischen Einrichtungen in den Gebieten Nowosibirsk und Omsk, sowie in der Region Perm investieren. Die Medscan Group investiert bis 2031 rund 820 Millionen Euro in den Bau von landesweit 70 Polykliniken.
Projekt/Region | Investitionssumme | Projektstand | Projektträger |
Aufbau eines Medizin-Clusters: medizinische Universität, Forschungsinstitut für Mutterschutz, Krebsklinik, zwei Polikliniken sowie Produktionseinrichtungen / Jekaterinburg, Gebiet Swerdlowsk | 362,7 | Geplante Fertigstellung: 2024-2026 | Renova Holding (gehört dem Oligarchen Viktor Wekselberg) |
Bau einer Infektionsabteilung im Regionalkrankenhaus / Republik Tschuwaschien | 278,8 | Geplante Fertigstellung: 2024 | |
Bau eines Onkologiezentrums / Region Krasnodar | 223,9 | Geplante Fertigstellung: 2026 | |
Bau eines nuklearmedizinischen Zentrums / Gebiet Kaluga | 196,7 | Geplante Fertigstellung: 2026 | |
Bau des Innovationszentrums für Medizintechnik „Baltijskaja Dolina“ / Gebiet Kaliningrad | 166,2 | Geplante Fertigstellung: 2024 | |
Bau eines Onkologiezentrums / Gebiet Nowosibirsk | 141,2 | Abschluss der Konzessionsvereinbarung | Medinvest Group (im Rahmen einer Öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP)) |
Modernisierung des nationalen medizinischen Forschungszentrums NIMZ / Gebiet Tomsk | 133,2 | Geplante Fertigstellung: 2023 | |
Bau eines Perinatalzentrums / Sankt Petersburg | 117,6 | Geplante Fertigstellung: 2024 | EKS (im Rahmen einer ÖPP) |
Ausbau der Meschalkin-Klinik (u.a. Bau eines Zentrums für Positronen-Emissions-Tomographie) / Gebiet Nowosibirsk | 110 | Projektierung; geplante Fertigstellung: 2026 | Schwabe Holding (gehört zu Rostec) |
Bau eines Zentrums für Geburtshilfe und Neonatologie/ Magadan | 96,7 | Projektierung | Schwabe Holding (gehört zu Rostec) |
Projektierung, Bau und Ausstattung einer Klinik für Chirurgie und eines Zentrums für Strahlentherapie / Novyj Urengoi, Autonomer Bezirk der Jamal-Nenzen | 92,9 | Geplante Fertigstellung: 2026 | |
Bau eines Kinderkrankenhauses / Region Transbaikal | 91,8 | Geplante Fertigstellung: 2024 | |
Bau eines Kinderkrankenhauses / Gebiet Kursk | 81,2 | Geplante Fertigstellung: 2024 | |
Bau eines Onkologiezentrums / Gebiet Saratow | 71,1 | Geplante Fertigstellung: 2023 | |
Bau eines Zentralkrankenhauses / Derbent, Republik Dagestan | 68,3 | Geplante Fertigstellung: 2025 | |
Bau eines Infektionskrankenhauses / Gebiet Kemerowo | 62,4 | Geplante Fertigstellung: 2025 | |
Bau eines Strahlentherapiezentrums / Gebiet Moskau | 55,3 | Geplante Fertigstellung: 2025 | |
Bau eines Kinderkrankenhauses / Gebiet Twer | 50,3 | Geplante Fertigstellung: 2023 | RT-SozStroj (gehört zu Rostec) |
Bau eines Onkologiezentrums / Gebiet Omsk | 47,1 | Geplante Fertigstellung: 2025 | Medinvest Group (im Rahmen einer ÖPP) |
Bau eines multifunktionalen Medizinzentrums / Moskau | 35,3 | Geplante Fertigstellung: 2023 | |
Bau eines Onkologiezentrums / Gebiet Smolensk | 27,7 | Geplante Fertigstellung: 2024 |
Staat kürzt Haushaltsausgaben für das Gesundheitswesen
Die Regierung stellt zwischen 2022 und 2024 weniger Mittel für das Gesundheitswesen zur Verfügung. Lag der Anteil der Gesundheitsausgaben im Jahr 2021 bei rund 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sind für 2022 nur noch 5,3 Prozent eingeplant.
Für die Modernisierung der medizinischen Grundversorgung stehen bis 2025 rund 6,3 Milliarden Euro an staatlichen Geldern zur Verfügung. Damit sollen rund 13.000 Kliniken neu gebaut oder modernisiert, 19.000 Krankenwagen beschafft und 88.000 medizinische Geräte geordert werden, erklärte Gesundheitsminister Michail Muraschko. Die für das Gesundheitswesen zuständige stellvertretende Ministerpräsidentin, Tatjana Golikowa kündigte im September 2021 an, das Programm über 2025 hinaus zu verlängern.
Fachbereich | Anzahl |
---|---|
Polikliniken/Ambulanzen | 20.228 |
Kliniken/Spitale | 5.257 |
Sanatorien und Erholungsheime | 1.755 |
Ende Dezember 2021 verabschiedete die Regierung das Konzept zur Entwicklung der Rehabilitation. Bis 2030 müssen mehr als 1.350 Rehabilitationseinrichtungen neu ausgestattet oder umgerüstet werden. Für 2022 stehen rund 110 Millionen Euro zur Verfügung. Der Bedarf ist groß. Zum 1. Dezember 2021 lebten in Russland etwa 11,3 Millionen Bürger mit Behinderungen, davon rund 725.000 Kinder.
Mit der „Strategie zur Entwicklung des Gesundheitswesens bis 2025“ wird die Palliativversorgung verbessert und der Ausbreitung von Infektionskrankheiten vorgebeugt.
Indikator | Wert |
---|---|
Einwohnerzahl (2020 in Mio.) | 146,2 |
Bevölkerungswachstum (2020 in % p.a.) | -0,4 |
Altersstruktur der Bevölkerung (1.1.2021) | |
Anteil der unter 14-Jährigen (in %) | 17,6 |
Anteil der über 65-Jährigen (in %) | 15,8 |
Durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt (2020) | 71,5 |
Durchschnittseinkommen (2020 in Euro) | 617,5 |
Gesundheitsausgaben pro Kopf (2020 in Euro) | 366,9 |
Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP (2020 in %) | 4,2 |
Ärzte/100.000 Einwohner (2018) | 479 |
Zahnärzte/100.000 Einwohner (2018) | 43 |
Krankenhausbetten/100.000 Einwohner (2018), davon | 799 |
privat | 12 |
öffentlich | 787 |
Gesundheitssystem ächzt unter der Coronapandemie
Russlands Gesundheitssystem kommt in der Omikronwelle an seine Belastungsgrenze. Im Jahr 2021 beliefen sich die Kosten zur Bekämpfung der Pandemie auf rund 1 Billion Rubel (rund 11,5 Milliarden Euro), meldet Michail Muraschko. Ein Großteil der Mittel floss in den Kauf von persönlicher Schutzausrüstung, Testsystemen zur Diagnose von Covid-19 sowie Beatmungsgeräten.
Medizinischer Sauerstoff fehlt an allen Ecken und Enden. Die landesweit 137 Hersteller von Sauerstoff fahren Sonderschichten und stellen ihre Produktion um. Die Schwabe-Holding (gehört zu Rostec) beginnt 2022 mit der Produktion von Geräten zur Gewinnung von medizinischem Sauerstoff aus der Luft.
Das Gesundheitsministerium verlängerte im Dezember 2021 die Regelung zur vereinfachten Einfuhr und Registrierung von Medizinprodukten zur Bekämpfung von Covid-19 bis 1. Januar 2025, darunter Verbrauchsmaterialien für Beatmungsgeräte, Sauerstoffkonzentratoren, sowie persönliche Schutzausrüstung.