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Branchenbericht Russland Schiffsverkehr, Häfen
Zur Entwicklung des Nördlichen Seewegs als Transitroute zwischen Europa und Asien muss Russland neue zivile Schiffe bauen. Der Fokus liegt auf Eisbrechern und Tankern der Eisklasse.
02.09.2020
Von Hans-Jürgen Wittmann | Moskau
Der Nördliche Seeweg muss ganzjährig befahrbar sein, damit die Milliarden schwere Erschließung des Transportkorridors entlang der russischen Nordmeerküste ein Erfolg wird. Dazu müssen Eisbrecher die Route in den Wintermonaten zwischen November und Mai frei halten. Die Nachfrage nach Eisbrecher-Eskorten von Handelsschiffen wächst. Im Jahr 2019 legte das Frachtaufkommen auf dem Nördlichen Seeweg um 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu - auf 29 Millionen Tonnen. Bis 2035 könnten etwa 120 Millionen Tonnen auf der Route befördert werden, schätzt Maxim Kulinko, Direktor der Abteilung für die Entwicklung des Nördlichen Seewegs der staatlichen Nuklear-Holding Rosatom, die als Betreibergesellschaft der Route fungiert.
Der Bedarf an eisbrechenden Schiffen steigt auch deshalb so rasant, weil Handelsschiffe immer früher auf der eisigen Route in Richtung Asien in See stechen. Im Jahr 2020 lief der Flüssiggastanker „Christophe de Margerie“ der Reederei Sowkomflot aus dem Hafen Sabetta („Jamal-LNG“-Werk von Novatek) bereits am 18. Mai 2020 in Richtung China aus - so früh wie noch nie zuvor. Um den zu erwartenden Anstieg der Zahl von Handelsschiffen, die auf dem Nördlichen Seeweg eine Eskorte benötigen, stemmen zu können, werden weitere Eisbrecher benötigt.
Die für den Betrieb und die Wartung der zivilen Atomeisbrecher zuständige Staatsholding Atomflot (gehört zu Rosatom) investiert in die Modernisierung und Erweiterung ihrer Flotte, die zu einem Großteil noch aus Sowjetzeiten stammt. Der Konzern lässt im Rahmen des „Projekts 22220“ bis 2035 acht neue Atomeisbrecher mit einer Leistung von je 60 Megawatt bauen. Nach deren Fertigstellung wird Russland die weltweit größte Flotte in Serie gefertigter Atomeisbrecher besitzen, die bis zu drei Meter dickes Eis durchdringen können.
Die Werft „Baltijski Sawod“ der Vereinigten Schiffbaugesellschaft (OSK) baut für etwa 1,2 Milliarden Euro zwei neue Atomeisbrecher. Die „Jakutia“ wurde am 26. Mai 2020 auf Kiel gelegt und soll 2025 fertiggestellt werden. Der Arbeiten am Eisbrecher „Tschukotka“ werden 2021 beginnen und sollen 2026 abgeschlossen sein. Den Probebetrieb aufnehmen werden in Kürze die drei bereits im Bau befindlichen Atomeisbrecher „Arktika“ (2020), „Sibir“ (2021) und „Ural“ (2022). Zudem verlängern neue Reaktoren die Lebenszeit der bereits in Dienst gestellten Schiffe Taimyr (bis 2025), Baigatsch (bis 2027), Jamal (bis 2030) und „50 Let Pobedy“ (bis 2039).
In der Werft „Swesda“ in Bolschoj Kamen in der fernöstlichen Region Primorje beginnt im Jahr 2020 der Bau des weltweit größten atomgetriebenen Eisbrechers „Leader“. Kostenpunkt des bis 2027 laufenden Projekts: 1,4 Milliarden Euro. Trotz der Corona-Pandemie gehen die Arbeiten wie geplant weiter.
Neben dem Eskortieren von Frachtschiffen mit Eisbrechern möchte sich Rosatom ein weiteres Standbein in der Arktis aufbauen. Die Atomholding will zu den 15 weltgrößten Seeschifffahrtsunternehmen aufsteigen und auf dem Nördlichen Seetransitkorridor (SMTK) zwischen Petropawlowsk-Kamtschatskij und Murmansk Waren von Südostasien nach Europa transportieren.
Rosatom investiert etwa 4,8 Milliarden Euro in den Bau moderner Frachtschiffe der Eisklasse. Eine weitere Milliarde Euro fließt in die Modernisierung von Häfen und Schwimmdocks. Jährlich sollen 72 Millionen Tonnen Fracht befördert werden, davon 43 Millionen Tonnen Container. Bis 2023 erwartet das der Konzern einen Umsatz von etwa 700 Millionen US-Dollar, der sich ab 2026 verachtfachen soll.
Der private Gaskonzern Novatek investiert etwa 10,5 Milliarden Euro in 42 neue Tanker mit Eisklasse, um Flüssiggas aus dem „Jamal-LNG“-Werk und den im Bau befindlichen Gasverflüssigungswerken „Arctic-LNG-2“ und „Obski LNG“ abtransportieren zu können. Im Jahr 2019 verschiffte Novatek nur etwa 6,5 Prozent der Gesamtproduktion des „Jamal-LNG“-Werks über den Nördlichen Seeweg nach China. Mittelfristig will der Konzern jedoch den Großteil seines Flüssiggases nach Asien transportieren.
Insgesamt 32 Tankschiffe will Novatek von der Werft Swesda in der Region Primorje beziehen. Für den Bau der ersten 15 Schiffe will Swesda mit Samsung Heavy Industries zusammenarbeiten. Die Kiellegung des ersten Eistankers ist für 2021 geplant. Ab 2023 sollen die ersten der jeweils etwa 250 Millionen Euro teuren Tankschiffe in Dienst gestellt werden.
Weitere zehn Tankschiffe will Novatek bei ausländischen Werften bestellen. Schon beim Projekt „Jamal LNG“ setzte Novatek auf Tanker aus südkoreanischer Produktion. Dafür hatte das Unternehmen bei der Werft Daewoo Shipbuilding & Marina Engineering (DSME) 15 Schiffe der Eisklasse Arc7 geordert.
Russland besitzt für Eisbrecher-Eskorten auf dem Nördlichen Seeweg ein Monopol. Laut der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) von 1982 darf die Betreibergesellschaft durchfahrenden Schiffen auf der Route entlang der russischen Nordmeerküste keine Gebühren in Rechnung stellen. Doch konkrete Dienstleistungen, wie das Freiräumen der Fahrrinne mit einem Eisbrecher oder das Abstellen eines Lotsen an Bord zur Navigation, dürfen kommerzialisiert werden. Da die Schiffsroute durch die ausschließliche Wirtschaftszone Russlands führt, hat Moskau außerdem immer das letzte Wort, wer die Passage durchqueren darf.