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Wirtschaftsumfeld | Argentinien | Konjunktur

Argentinien steckt in doppelter Krise von Wirtschaft und Politik

Politische Unwetter lassen die Wirtschaftskrise in den Hintergrund treten. Doch der Devisenmangel bleibt ein bedrückendes Thema. Eine Rezession scheint kaum zu vermeiden.

Von Carl Moses | Buenos Aires

Nach einem gescheiterten Attentat auf die frühere Präsidentin und derzeitige Vizepräsidentin Cristina Kirchner überdeckt die Innenpolitik die Nachrichten über die angespannte Wirtschaftslage in Argentinien. Bereits zuvor hatten der gegen Kirchner laufende Korruptionsprozess und die Forderung des Staatsanwalts nach zwölf Jahren Gefängnis das innenpolitische Klima extrem angeheizt.

Spaltung erschwert Konsens

Selbst der Schock des Attentats vom 1. September 2022 hat Argentinien nicht zusammenrücken lassen, sondern die politischen Gräben eher weiter vertieft. Dennoch sieht der renommierte Politikanalyst Carlos Pagni erste Anzeichen für die Suche nach einem Minimalkonsens zwischen den verfeindeten politischen Lagern in der zerrissenen argentinischen Gesellschaft. Dabei gehe es nicht allein um die Verhütung weiterer Gewalt. Auch die grundlegenden wirtschaftlichen Probleme des Landes seien ohne einen politischen Minimalkonsens nicht in den Griff zu bekommen.

Auch in der Wirtschaft haben sich die Gegensätze akzentuiert. Einerseits konsumieren die Angehörigen der höheren und mittleren Einkommensschichten was das Zeug hält, um die von rasantem Wertverlust bedrohten Pesos loszuwerden. Andererseits gerät das untere Ende der Einkommenspyramide angesichts der galoppierenden Inflation immer stärker unter Druck. So steht den vollen Restaurants in Buenos Aires gleichzeitig ein Rückgang der Verkäufe von Lebensmitteln in den Supermärkten gegenüber.

Devisenknappheit begrenzt Konjunkturerholung

Der durch die Flucht in Sachwerte genährte Aufschwung von Konsum und Investitionen scheint an seine Grenzen zu stoßen, nicht zuletzt weil die zum offiziellen Wechselkurs verfügbaren Devisen für Importe in den letzten Monaten immer knapper wurden. Angesichts der dramatischen Zuspitzung des Devisenmangels erhält der neue Wirtschaftsminister Sergio Massa von der peronistischen Regierungskoalition für Sparmaßnahmen im Staatshaushalt und für gezielte Lockerungen des Devisenkorsetts nun aber jenen politischen Freiraum, der seinen Vorgängern verwehrt geblieben war.

So wurden die Energiepreise vor allem für besser gestellte Haushalte ab September 2022 drastisch erhöht. Durch vorübergehende Zugeständnisse beim Wechselkurs konnte Massa die Agrarwirtschaft locken, einen Teil ihrer gehorteten Sojabestände auf den Markt zu werfen und mit den entsprechenden Exporteinnahmen eine leichte Erholung der Devisenreserven zu ermöglichen. Weitere Sonderregelungen auf dem Devisenmarkt sind auch für andere Branchen im Gespräch und teilweise bereits in Kraft.

Kurzfristige Fälligkeiten von Staatsanleihen wurden für einige Monate gestreckt - im Gegenzug gewährte die Regierung in den Anleihebedingungen großzügige Garantien zum Ausgleich der Inflation und einer möglichen Abwertung. Die Last des Schuldendienstes könnte dadurch im kommenden Jahr freilich schlagartig zunehmen.

Rückendeckung des IWF vorerst gesichert

Der mit erweiterten Zuständigkeiten ausgestattete “Superminister” Massa, der den eher konservativen und stark den USA zugewandten Flügel der Peronisten vertritt, ist neben Cristina Kirchner zweifellos der einflussreichste Politiker in der Regierungskoalition und nun auch der neue starke Mann in der Regierung. Im September tourte Massa eine Woche lang durch die USA. Nach zahlreichen Treffen mit Unternehmen wurde ihm am Ende seiner Reise ein großer Bahnhof in Washington bereitet. So wurde Massa nicht nur von der Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgieva, sondern auch von der amerikanischen Finanzministerin Janet Yellen empfangen. Damit ist klar: Der IWF steht - vorerst zumindest - weiter hinter Argentinien. Auch andere multilaterale Geber machen neue Kredite für das Land locker. 

Keine nachhaltige Entspannung vor den Wahlen

Wie weit der neue Minister mit seiner eingeleiteten Sparpolitik im Wahljahr 2023 kommt, bleibt indes abzuwarten. Von Stabilität kann angesichts einer auf 100 Prozent zusteuernden Inflationsrate jedenfalls keine Rede sein. Wenngleich die Zuspitzung der Devisennot einstweilen gestoppt ist, erwarten Experten keine nachhaltige Entspannung der Märkte. Die amerikanische Bank JP Morgan rechnet in Argentinien mit einer Rezession ab dem dritten Quartal 2022 und mit einer bloß geringfügigen Erholung der Konjunktur im Vorfeld der für Oktober 2023 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.

Das argentinische Beratungsunternehmen Ecolatina präsentiert seinen Kunden ein Basisszenario mit einem BIP-Wachstum um real fast 4 Prozent im laufenden Jahr und 1 Prozent 2023, daneben aber auch ein pessimistisches Szenario mit einem BIP-Rückgang um 2,7 Prozent und einer Inflation von 137 Prozent im kommenden Jahr. Die Eintrittswahrscheinlichkeit ist dabei für das bessere Szenario kaum höher als für das schlechte.

Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt Argentinien den Schlussspurt zu den Präsidentschaftswahlen in Brasilien. Das große Nachbarland ist der wichtigste Exportmarkt, vor allem für die argentinische Industrie. Sollte in Brasilien Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva an die Macht zurückgelangen, könnte es zwischen Buenos Aires und Brasília demnächst politisch wieder harmonischer zugehen als in den letzten Jahren.

Neuer Anlauf für EU-Mercosur-Abkommen?

Unabhängig vom Ausgang der Wahlen in Brasilien ist absehbar, dass die Gespräche zur Vollendung des 2019 in den Grundzügen bereits vereinbarten Abkommens zwischen dem Mercosur und der EU bald wieder in Gang kommen werden. Zu groß ist das Interesse Europas an einer stärkeren Zusammenarbeit mit Südamerika. Das Mercosur-freundliche Spanien übernimmt Mitte 2023 die Präsidentschaft in der EU.

Dass Argentinien kürzlich die Aufnahme in die BRICS-Staatengruppe beantragt hat und damit neben Südafrika - und möglicherweise zusammen mit Iran - diese Achse zwischen China, Russland und Indien verstärken wird, dürfte den Druck auf die EU noch erhöhen, den Mercosur stärker an sich zu binden. Das unvollendete Abkommen liegt als Instrument dafür in der Schublade bereit. 

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