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Das Reich der Mitte hat ein Schuldenproblem. Als gravierend gelten die Geschwindigkeit, mit der die Schulden steigen, sowie die stark gestiegene Verschuldung der Privathaushalte.
07.07.2020
Von Stefanie Schmitt | Beijing
Der wachsende Schuldenstand der Volksrepublik kommt nicht aus den Schlagzeilen. Für 2020 erwartet die Schweizer Bankengruppe UBS einen Anstieg der Gesamtverschuldung des Nicht-Finanzsektors infolge der Coronakrise auf mehr als 300 Prozent, gemessen als Anteil des Kreditvolumens am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Ende 2019 lag die Verschuldung des Landes nach Angaben der Bank of International Settlements (BIS) noch bei rund 259 Prozent. Hiervon entfielen etwa 54 Prozent auf den Staat sowie 55 Prozent auf private Haushalte und 149 Prozent auf den Unternehmenssektor.
Damit hat China mittlerweile die USA (254 Prozent) und Italien (257 Prozent) überrundet. Noch problematischer ist die Lage in Griechenland (294 Prozent) oder gar in Japan (381 Prozent; zum Vergleich Deutschland: 181 Prozent). Viel relevanter als die Höhe sehen Ökonomen jedoch die Geschwindigkeit, mit der sich Chinas Verschuldungsstand nach oben entwickelt. Dies gilt insbesondere für die Verschuldung der privaten Haushalte, die sich gemessen am Anteil des BIP innerhalb nur eines Jahrzehnts mehr als verdoppelte. Der Löwenanteil dieser Entwicklung resultiert aus den explodierenden Immobilienpreisen.
Ebenfalls nach oben, wenn auch nicht so dramatisch, weist die Staatsverschuldung. Diese war erstmals im Rahmen des großen Konjunkturpakets, das das Reich der Mitte zur Stützung seiner Wirtschaft während der Finanzkrise 2008/09 geschnürt hatte, in die Höhe geschnellt. Ab 2010, als die Verantwortlichen merkten, dass die Ausgaben "aus dem Ruder" liefen, wurde sie wieder stark zurückgefahren. Weiteren Schub erhielt die Staatsverschuldung ab 2013/14 mit der Entstehung des Schattenbankensystems, das inzwischen von der Politik stark eingedämmt wurde.
Dennoch entwickelte sich die Verschuldung weiter nach oben, nicht zuletzt, weil der Staat versucht, die sich abschwächende Wirtschaftsentwicklung über eigene Investitionen, speziell auch im Infrastrukturbereich, auszugleichen. Angesichts der gewaltigen Beträge, die die Zentralbank (People's Bank of China; PBoC) beziehungsweise das Finanzministerium (Ministry of Finance; MOF) gegenwärtig dem Bankensystem im Zuge der Wirtschaftsstabilisierung bereitstellen, ist mit einem weiteren Zuwachs zu rechnen.
Auf der anderen Seite verfügte das Finanzministerium 2020 über Abgaben-, Gebühren- und Steuersenkungen beziehungsweise -befreiungen, die sich in den ersten vier Monaten 2020 auf umgerechnet rund 61 Milliarden Euro summierten. Infolge der Coronakrise sanken die Staatseinnahmen im gleichen Zeitraum um 14,5 Prozent gegenüber der Vorjahresperiode.
Des Weiteren gibt es durchaus berechtigte Zweifel, ob in den ausgewiesenen Beträgen der Staatsverschuldung tatsächlich alle Posten enthalten sind. Insbesondere die Verschuldungssituation der lokalen Gebietskörperschaften gilt in Bankenkreisen als sehr undurchsichtig. Hinzu kommt, dass viele Schulden aus dem Unternehmenssektor eigentlich dem Staat zugerechnet werden müssen – wenn sich etwa ein Staatsunternehmen als privater Partner in einem Public-Private-Partnership-(PPP-)Projekt am Bau einer U-Bahnlinie beteiligt. Ganz besonders in der Kritik steht ohnehin, dass es sich bei den Schuldnern in erster Linie um staatliche Firmen handelt. Privatunternehmen erhalten hingegen nur sehr begrenzt Zugang zu offiziellen Krediten.
Generell konnte China mit der hohen Verschuldung bislang gut leben, denn das Land ist quasi ausschließlich in seiner eigenen Währung verschuldet. Überdies verhindern strenge Kapitalverkehrskontrollen den Abfluss liquider Mittel ins Ausland. Hinzu kommen die niedrigen Zinsen und die geringe Inflation. So stieg der Verbraucherpreisindex 2019 lediglich um 2,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Nach einem kräftigen Anziehen zu Jahresbeginn 2020 auf bis zu 5,2 Prozent im Februar 2020 gegenüber dem Vorjahresmonat verzeichnete der Index im Mai 2020 im Jahresvergleich nur noch ein Plus von 2,4 Prozent.
Bankvertreter halten dem jedoch entgegen, dass es in der Volkrepublik durchaus Inflation gibt – und dass der dem Konsumentenpreisindex zugrundeliegende, nicht publizierte Warenkorb offenbar nicht oder nur rudimentär die Steigerungen der Immobilienpreise berücksichtigt. Tatsächlich sei die Inflation in die Immobilienpreise gegangen, heißt es.
Das Resultat ist eine riesige Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen zwischen denen, die rechtzeitig Wohneigentum erworben haben und allen anderen. Mitte 2020 lassen sich beispielsweise in Beijing von einem durchschnittlichen Jahreseinkommen gerade einmal 2,7 Quadratmeter "durchschnittlichen" Wohnraums erwerben.
Zwar ist kurz- und wahrscheinlich auch mittelfristig nicht mit einem Rückgang der Immobilienpreise zu rechnen. Hierfür sorgt etwa der anhaltende Urbanisierungsprozess: Jedes Jahr zieht etwa ein Prozent der chinesischen Bevölkerung in die Stadt. Auch fehlen Anlagealternativen. Einerseits verzinsen staatliche Banken Spareinlagen miserabel, andererseits weist die chinesische Börse "Casino-Qualitäten" auf. Hinzu kommt der gesellschaftliche Druck, dass ein junger Mann zumindest eine Wohnung mit in die Ehe einzubringen habe. Nicht zuletzt investieren sowohl Privatpersonen als auch Firmen in Erwartung stetig steigender Preise weiterhin in "Betongold".
Doch was geschieht, sollten die Immobilienpreise einmal stagnieren oder sogar fallen? Dies könnte der Fall sein, wenn eine "kritische Masse" heute Erwerbstätiger in Rente geht und ihre Immobilie verkaufen muss, um zum Beispiel durch die Krankenversicherung nicht gedeckte Kosten für eine Krebsbehandlung zu finanzieren. Zu erwarten wäre eine Abwärtsspirale mit kaum abzuschätzenden Folgen, denn dann dürfte auch die Nachfrage nach Wohnungen innehalten. Denn wer kauft schon eine Wohnung, wenn er hofft, das gleiche oder ein ähnliches Objekt in drei Monaten deutlich günstiger zu bekommen? Doch ist dies eine Gefahr, die aus heutiger Sicht eher in weiter Ferne droht.