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Wirtschaftsumfeld | Russland | Krieg in der Ukraine

Abwanderungswillige Firmen wollen ihr Personal mitnehmen

Ausländische Unternehmen wollen ihre russischen Spezialisten nicht verlieren. Sie bieten die Übersiedlung nach Deutschland an. Auch ein Transfer in ein Drittland ist eine Option.

Von Hans-Jürgen Wittmann | Berlin

Der Rückzug ausländischer Firmen wirbelt Russlands Arbeitsmarkt kräftig durcheinander. Das größte Flächenland verliert massenhaft qualifizierte Fachkräfte. Alleine in Moskau werden rund 200.000 Arbeitsplätze wegfallen, sollten internationale Konzerne die Hauptstadt verlassen, rechnet Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin vor. Landesweit dürfte die Zahl um ein Vielfaches höher liegen. Doch abwanderungswillige Firmen müssen sich an die geltenden Regeln halten, wenn sie sich von ihren Mitarbeitern trennen wollen. Sollten sie ihren Angestellten einfach kein Gehalt mehr bezahlen, droht die Regierung mit der Verstaatlichung des Unternehmens.

Mitarbeitenden steht bei Kündigung Abfindung zu

Um sich rechtskonform von ihren Mitarbeitern zu trennen, sieht das russische Arbeitsgesetzbuch (ArbGB) für Unternehmen mehrere Möglichkeiten vor. So kann das Arbeitsverhältnis im gegenseitigen Einvernehmen der Parteien aufgelöst werden. Die einvernehmliche Beendigung stellt in der Praxis die am weitesten verbreitete Form der Vertragsbeendigung dar.

Bei Kündigung infolge einer Unternehmensliquidation oder wegen Personalabbaus steht dem Arbeitnehmer eine Abfindung in Höhe eines monatlichen Durchschnittseinkommens zu. Zudem ist ihm für bis zu zwei Monate der Lohn fortzuzahlen. Mindestens zwei Monate vor einem Stellenabbau muss der Arbeitgeber die Gewerkschaftsvertretung schriftlich darüber in Kenntnis setzen. Bei Kündigung wegen Nichtbefolgung einer Versetzung an einen neuen Standort kann die Abfindung auf einen halbmonatlichen Durchschnittsverdienst beschränkt werden.

Einige Unternehmen unterstützen ihre scheidenden Mitarbeiter bei der Jobsuche. Hoch im Kurs steht die Beratung zur beruflichen Neuorientierung (Outplacement). Dieses freiwillige Engagement zahlt sich aus. Rund zwei Drittel der Teilnehmer einer Umfrage der Recruiting-Plattform Careerarc gaben an, nicht mehr bei Firmen einzukaufen, die in dem Ruf stehen, ihr Personal schlecht zu behandeln.

Erste Unternehmen, die die strategische Entscheidung getroffen haben, Russland zu verlassen, trennen sich bereits von ihren Mitarbeitern. Volkswagen kündigte Anfang Juni 2022 an, seinen Standort in Nischni Nowgorod zu schließen. Der Autobauer hat jedem seiner rund 200 lokalen Mitarbeiter, der von sich aus kündigt, ein Trennungspaket angeboten: Darin enthalten ist eine Abfindung in Höhe von sechs Monatsgehältern, eine Krankenversicherung und persönliche IT-Ausstattung.

Firmen bieten russischen Fachkräften Übersiedelung nach Deutschland an

Eine andere Variante ist, hoch qualifizierte russische Fachkräfte nach Deutschland mitzunehmen oder in Tochterunternehmen in Nachbarländer zu verlagern. Russland verfügt über gut ausgebildete Arbeitnehmer und ein breites Angebot an Hochschulabsolventen. Insbesondere in den MINT-Fächern verfügen russische Spezialisten traditionell über sehr gute Kenntnisse.

Der Branchenverband der Digitalindustrie, Bitkom, setzt sich dafür ein, vor allem auswanderungswillige IT-Fachkräfte aus Russland gezielt nach Deutschland zu holen. Dadurch könnte der Fachkräftemangel gelindert werden. Russische IT-Spezialisten sollen innerhalb einer Woche eine Arbeitserlaubnis erhalten, wenn ein konkretes Jobangebot in Deutschland vorliegt, fordert der Verband. Voraussetzung dafür ist jedoch eine amtliche Sicherheitsüberprüfung.

Die Deutsche Bank bot ihren Programmierern in den russischen Entwicklungszentren an, in die Bundesrepublik umzuziehen. Mehrere Hundert der rund 1.500 russischen IT-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter siedelten mit ihren Familien anschließend nach Berlin über, wo die Deutsche Bank ein neues Technologiezentrum gründet.

Um ein Visum zu erhalten, müssen russische Fachkräfte aktuell das reguläre Antragsstellungsverfahren durchlaufen. Die Bundesregierung will die Visaverfahren zur Personalverlagerung von russischen Beschäftigten deutscher und internationaler Unternehmen beschleunigen, unter anderem durch eine Globalzustimmung der Bundesagentur für Arbeit und die Möglichkeit, Visaunterlagen in Nachbarländern ausstellen zu lassen. Außerdem ist die Bundesregierung um schnelle Verfahren für neu rekrutierte Fachkräfte bemüht. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (OA) steht mit der zuständigen Taskforce in engem Austausch. Zudem setzt sich der Unternehmerverband gezielt dafür ein, IT-Spezialisten nach Deutschland zu holen.

Kasachstan bietet sich als alternativer Standort an

Der Trend zur Abwanderung ist des einen Leid und des anderen Freud. Neben den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Türkei werden derzeit vermehrt Firmenniederlassungen in Kasachstan gegründet. Für Unternehmen, die in der Umgebung Russlands aktiv bleiben und Geschäfte in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) machen möchten, bietet sich das zentralasiatische Land geradezu an. Dabei spielen als Standortvorteil nicht nur die Mitgliedschaft des zentralasiatischen Landes in der EAWU eine Rolle, sondern auch die geografische Nähe zum aufstrebenden Markt Usbekistan. Kasachstans Präsident Tokajew ordnete an, günstige Bedingungen für eine Relokation von Firmen aus Russland zu schaffen.

Auch der „Middle Corridor“ als Brücke zwischen China und Europa, der über Kasachstan verläuft, bietet deutschen Firmen Potenzial. „Zudem liegt das Lohngefüge weit unter dem Niveau von Moskau, wo viele deutsche Firmen niedergelassen sind“, berichtet Michael Germershausen, General Manager der Personalagentur Antal mit Sitz im kasachischen Almaty. Daneben kann man von Kasachstan aus problemlos nach Deutschland und Russland reisen und ohne Einschränkungen Geld überweisen.

Auch für russische Mitarbeiter deutscher Firmen ist Kasachstan für eine Relokation interessant, denn sie können dorthin ohne Visum und Arbeitserlaubnis problemlos übersiedeln. „Direkt nach Kriegsbeginn kamen bereits zahlreiche Russen in das zentralasiatische Land. Nach rund vier Monaten sehen wir eine zweite Migrationswelle, weil mehr und mehr Betriebe in Russland schließen müssen“, zeigt Michael Germershausen einen aktuellen Trend auf.

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