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Wirtschaftsumfeld | Ukraine | Krieg in der Ukraine

Zaghafter Wiederaufbau im ukrainischen Cherson

Die Provinzhauptstadt Cherson ist wieder unter ukrainischer Kontrolle. Damit kann der Wiederaufbau der Region beginnen, die sehr ländlich geprägt ist.

Von Gerit Schulze | Berlin

Cherson war die einzige Gebietshauptstadt der Ukraine, die Russland nach seiner Invasion am 24. Februar 2022 kontrollierte. Anfang November zogen sich die russischen Truppen aus der Stadt am rechten Dnipro-Ufer zurück. Bevor das Wirtschaftsleben der Region wieder in Fahrt kommen kann, sind erhebliche Anstrengungen nötig. Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj haben die Besatzer die gesamte kritische Infrastruktur in Cherson zerstört. Strom, Benzin, Gas und Wasser sind Mangelware. Der flächenmäßig größte Teil des Gebiets links des Dnipro bleibt unter russischer Kontrolle.

Dennoch sollen in Cherson nun Erfahrungen gesammelt werden, wie ein Wiederaufbau nach Kriegsende gelingen könnte. Die Regierung billigte ein Pilotprojekt zur digitalen Verwaltung der Infrastruktursanierung. Außerdem stellte sie der Stadt umgerechnet 2,8 Millionen Euro für Notreparaturen an Dächern und Fassaden, den Austausch von Fenstern und Türen und die kommunalen Versorgungsleitungen zur Verfügung.

Energieversorgung hat Vorrang

Kurzfristig geht es vor allem darum, die Menschen mit Energie zu versorgen. Innerhalb eines Monats soll die Stromversorgung im Großraum Cherson wieder hergestellt werden, teilte der Konzern DTEK mit. Experten begutachten zurzeit die Übertragungsleitungen, um Schwachstellen zu identifizieren. Die russischen Truppen hatten Zugänge zu Kraftwerken und Umspannwerken vermint, Trafostationen und Hochspannungsleitungen zerstört.

Das bestätigte der Chef des Übertragungsnetzbetreibers Ukrenergo, Volodymyr Kudrytskyi, in einem Facebook-Eintrag. Demnach sei eine große Energieanlage praktisch zerstört, die das Chersoner Gebiet auf der rechten Dnipro-Seite und einen großen Teils der Region Mykolajiw versorgte. Zwei jeweils 250 Tonnen schwere Transformatoren wurden gesprengt, eine Relaisschutzhalle, Kompressoren und Batterien unbrauchbar gemacht. Laut Kudrytskyi sei bereits technische Hilfe aus Polen und Frankreich unterwegs.

Mobilfunk und Post funktionieren bereits

Nach verschiedenen Schätzungen leben derzeit noch 70.000 Menschen in der Gebietshauptstadt. Vor Kriegsausbruch waren es über 300.000. Zu den ersten Maßnahmen nach dem Abzug der Besetzer gehörte der Aufbau des Mobilfunknetzes. Die beiden Betreiber Kyivstar und Vodafone haben in Cherson erste Basisstationen installiert, berichtete das Nachrichtenportals UBR.ua. Sie laufen wegen des schwachen Stromnetzes mit Generatoren. Auch Terminals für die Nutzung des Satellitennetzwerks Starlink wurden aufgestellt.

Die staatliche Postgesellschaft Ukrposhta richtet mobile Filialen ein und eröffnete am 15. November 2022 zwei Postämter wieder. Das ist wichtig, weil die Rente in der Ukraine häufig über die Post ausgezahlt wird. Das private Unternehmen Nova Poshta hat ebenfalls einige Filialen in Cherson reaktiviert und mit der Zustellung von Hilfsgütern begonnen.

Die beiden staatlichen Großbanken Oschadbank und Privatbank bieten bereits Schalterdienste in Cherson an, haben Bankautomaten mit Bargeld befüllt und wollen schrittweise weitere Filialen öffnen.

Die Tankstellenkette Okko prüft ihre einst fünf Standorte in der Stadt auf mögliche Verminung und will diese möglichst schnell in Betrieb nehmen. Supermarktbetreiber ATB plant die Wiedereröffnung eines Discountermarktes in Cherson.

Eisenbahn wird Zugverkehr wieder aufnehmen

In Kürze sollen wieder Züge der Staatsbahn Ukrsalisnyzja in Cherson einlaufen. Das Unternehmen sucht die Gleise derzeit auf Minen ab und stellt Lokomotiven und Wagen zusammen. Der ukrainische Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakov kündigte auf Twitter an, dass Cherson ab Ende November 2022 an das Eisenbahnnetz angeschlossen werde.

Eine langfristige Herausforderung sind die Brücken über den Dnipro, die Russland beim Rückzug zerstört hat. Dazu gehören vor allem die Antoniwka-Brücke und der Damm beim Wasserkraftwerk Nowa Kachowka. Eine weitere wichtige Querung ist die zerstörte Darjiwka-Brücke über den Fluss Inhulez. Solange eine Bedrohung durch heranrückende russische Truppen besteht, dürften die Bauwerke aber kaum wiederaufgebaut werden.

Viele Schulen und Kindergärten zerstört

Ein schneller Aufbau ist auch für die Bildungseinrichtungen nötig. Nach Informationen des Internetportals UBR.ua wurden im Chersoner Gebiet 48 Schulen durch Beschuss beschädigt, 14 davon komplett zerstört. Außerdem wurden 23 Kindergärten und fünf Berufsschulen stark von Artillerie getroffen.

Bekannt für Wassermelonen und Solarparks

Das Chersoner Gebiet ist stark landwirtschaftlich geprägt und bekannt für seine Wassermelonen. Die ausgedehnten Flächen mit guter Sonneneinstrahlung ließen die Photovoltaik in der Region boomen. Viele Anlagen wurden von russischen Angreifern zerstört.

Auch Europas größte Geflügelfarm in Tschornobajiwka ist vom Krieg betroffen. Da im Frühjahr 2022 die automatische Fütterungsanlage ausfiel, verendeten dort 4 Millionen Hühner.

Strukturschwache Region mit viel Landwirtschaft

Die Oblast Cherson gehört zu den wirtschaftsschwächeren Regionen der Ukraine. Sie rangiert im landesweiten Vergleich weit hinten: auf Platz 21 von 25 Regionen (ohne Krim).


Das Bruttoregionalprodukt betrug im Jahr 2020 (letzte verfügbare Zahl) nur 2,2 Milliarden Euro. Das entspricht etwa der Wirtschaftskraft der Stadt Frankfurt/Oder.
 

Der Durchschnittslohn in der Region ist entsprechend niedrig. Er lag vor Kriegsausbruch bei umgerechnet rund 350 Euro (Ukraine insgesamt: 430 Euro).

Ausländische Investoren verlieren Kontrolle über ihre Werke

Ein wichtiger Wirtschaftszweig war bislang die Lebensmittelverarbeitung. In Cherson gab es wichtige Hersteller von Brotwaren, Konditoreiwaren, Konserven, Kindernahrung und pflanzlichen Ölen. Eine der größten Fabriken war der Milchverarbeiter Danone Dnipro in Cherson. Die französischen Eigentümer verloren nach dem Einmarsch der Russen die Kontrolle über das Werk und schlossen es im Februar 2022.

Im Maschinenbau dominieren Landtechnikhersteller. Das wichtigste Werk, der Mähdrescherhersteller "Kherson Machine Building Plant", wurde im September 2022 durch Raketenbeschuss stark beschädigt. Nach ukrainischen Angaben befand sich auf dem Firmengelände eine russische Militärbasis.

Größere Bedeutung haben die Werften im Chersoner Gebiet, die sich auf Wartung und Reparatur von Schiffen spezialisiert haben. Führende Betriebe sind Palada und Smart Maritime Group.

Der Düsseldorfer Konzern Henkel betrieb im Gebiet Cherson ein Werk für Bauchemie. Die Fabrik liegt in Oleschky am linken Dniproufer und damit immer noch in besetztem Gebiet.

Produktion ausgewählter Waren im Gebiet Cherson

Produkt, Einheit

Produktionsmenge 2021

Anteil an ukrainischer Gesamtproduktion in %

Reis, in Tonnen

6.585

56,3

Molke, in Tonnen

10.130

21,0

Solarstrom, in Mio. KWh

369

14,2

Gemüsekonserven (in Essig eingelegt), in Tonnen

3.243

11,6

Weizenbrot, in Tonnen

9.070

3,0

Holzpaletten, Stück

366.000

2,9

Weizenmehl, in Tonnen

30.864

2,7

Käse (außer Frischkäse), in Tonnen

1.397

2,0

Strom, in Mio. kWh

2.409

1,6

Papieretiketten, in Tonnen

181

0,8

Fertigbeton, in Tonnen

148.000

0,8

Quelle: Ukrainisches Statistikamt Derzhstat

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