Dieser Inhalt ist relevant für:
RusslandArzneimittel, Diagnostika
Branchen
Branchen | Russland | Pharmasektor
Die Coronapandemie hat den russischen Pharmamarkt stark beeinflusst. Der Staat engagiert sich noch mehr in der Branche und erlaubt nun den Onlinehandel mit Arzneimitteln.
14.01.2021
Von Gerit Schulze | Moskau
Von der gestiegenen Arzneimittelnachfrage in Zeiten der Coronapandemie konnten in Russland vor allem Medikamente profitieren, die im Inland produziert werden. Sie verzeichneten 2020 höhere Wachstumsraten als Importpräparate. Die Inlandsproduktion ist von Januar bis September 2020 um ein Viertel gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen. Schon 2019 erzielten die einheimischen Pharmahersteller ein Plus von 27 Prozent.
Laut Schätzungen des Beratungsunternehmens DSM Group erreichten die Arzneimittelverkäufe in Russland 2020 ein Volumen von 2 Billionen Rubel (rund 22,4 Milliarden Euro, Wechselkurs am 15. Dezember 2020: 1 Euro = 89,42 Rubel). Das war ein nominaler Zuwachs um 9 Prozent zum Vorjahr.
2018 | 2019 | Veränderung | |
Marktvolumen 2) | 13,5 | 17,7 | 31,2 |
Exporte 3) | 0,4 | 0,5 | 13,6 |
Importe 3) | 6,9 | 9,3 | 36,2 |
Produktion 4) | 7,1 | 8,9 | 25,3 |
Anmerkungen zur Tabelle:
1) Umgerechnet zum jeweiligen Jahreswechselkurs der EZB; 2) Inlandsproduktion plus Importe minus Exporte. Die Marktforschungsfirma DSM Group schätzt das Marktvolumen für 2019 auf 25 Milliarden Euro; 3) SITC-Position 542; 4) Produktionsangaben von Rosstat (Arzneimittel und medizinische Materialen).
Im Jahr 2019 wurden Arzneimittel für 1,84 Billionen Rubel (nach damaligem Wechselkurs 25,4 Milliarden Euro) verkauft. Darin enthalten sind Nahrungsergänzungsmittel sowie arzneimittelnahe Erzeugnisse (Parapharmazeutika), auf die 262 Milliarden Rubel entfielen. Wegen der Abwertung des Rubels ist der Markt in Euro gerechnet seit 2017 nicht gewachsen.
Das physische Volumen der Verkäufe schrumpft: In den ersten drei Quartalen 2020 wurden 4,41 Milliarden Verpackungen Arzneiverpackungen verkauft und damit 5 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Hier machte sich die Zurückhaltung des Staates bemerkbar, der laut DSM Group bis September fast ein Fünftel weniger Medikamentenpackungen bestellte. Außerdem schlägt sich die schwierige Finanzlage der Verbraucher in den Zahlen nieder. Die real verfügbaren Einkommen sind 2020 nach ersten Schätzungen um 3 Prozent gesunken.
Der Pro-Kopf-Verbrauch an Medikamentenverpackungen ist seit Jahren relativ stabil bei rund 40 Schachteln. Experten weisen aber darauf hin, dass die Packungsinhalte größer geworden sind. Am meisten Wachstum erzielen derzeit Verpackungen mit mehr als 50 Tabletten, Kapseln oder Dragées.
Der Anteil der staatlichen Ausgaben für Arzneimittel am Gesamtmarkt lag 2020 bei rund 36 Prozent und damit auf dem Niveau des Vorjahres. Dazu zählen die Medikamentenkäufe der Krankenhäuser sowie die Beschaffungen über föderale und regionale Programme zur Versorgung mit Pharmaerzeugnissen. Zielgruppe sind sozial schwache Gruppen, kinderreiche Familien, Menschen mit Behinderungen und Rentner.
Ab 2021 will das Gesundheitsministerium ein Register der Anspruchsberechtigten für vergünstigte Arzneimittel, Medizinprodukte und Heilnahrung erstellen. Das Verzeichnis soll helfen, die Einkäufe rechtzeitig zu planen, Restbestände zu ermitteln und zu kontrollieren, ob alle Berechtigten die notwendigen Arzneimittel erhalten.
Die Ausgangsbeschränkungen während der Coronapandemie haben dem Internethandel mit Arzneimitteln einen Schub gegeben. Am 18. Mai 2020 ist die Regierungsverordnung Nr. 697 in Kraft getreten, die den Onlineversand von Medikamenten regelt. Rezeptfreie Medikamente dürfen nun online bestellt und von lizenzierten Händlern ausgeliefert werden. Ausgenommen sind Narkotika, Psychopharmaka und Präparate ab 25 Prozent Alkoholgehalt. In Zeiten von Pandemien und staatlichen Notständen soll auch die Abgabe von rezeptpflichtigen Präparaten möglich sein. Dafür können elektronische Rezepte akzeptiert werden. Marktforscher erwarten, dass auf den Absatzkanal Internet in den nächsten fünf Jahren bis zu 40 Prozent der Arzneimittelverkäufe entfallen (2019: 5 Prozent).
Seit mehreren Jahren gehört die Arzneimittelproduktion zu den dynamischsten Industriezweigen. Nach den zweistelligen Zuwachsraten in den Vorjahren rechnet das Wirtschaftsministerium für 2021 bis 2023 mit einem Produktionsplus von jeweils 7 Prozent.
Unter dem Druck der Pandemie hatte Russland 2020 mehrere neue Produktionsstätten für Medikamente zur Covid19-Behandlung aus dem Boden gestampft. Über ein Sonderprogramm für „Maßnahmen gegen epidemiologische Erkrankungen“ finanziert der Fonds zur Industrieentwicklung (FRP) 95 Investitionsprojekte mit umgerechnet 300 Millionen Euro.
Darunter waren 2020 Produktionsanlagen für den Immunmodulator Olokizumab (R-Farm), das Virostatikum Favipiravir (Chimrar) und das Interleukin Levilimab (Biocad). Teilweise wurde der komplette Produktionszyklus lokalisiert, inklusive Wirkstoffherstellung. Die Regulierungsbehörde hatte die Zulassungsprozesse für neue Arzneimittel zur Behandlung von Sars-Cov-2 beschleunigt.
Das gilt auch für den Corona-Impfstoff Sputnik V, auf den Russlands Pharmabranche große Hoffnungen setzt. Mindestens sechs Hersteller wollen das Vakzin produzieren, darunter R-Farm, Generium und Biokad. Die Lizenzen vergibt das Moskauer Gamaleja-Institut, das den Impfstoff entwickelt hat. Während der Fonds für Direktinvestitionen RFPI den Aufbau von Produktionslinien kofinanziert, soll die neue Tochtergesellschaft der Sberbank, Immunotechnologii, den Vertrieb von Sputnik V zentral koordinieren. Der RFPI erwartet ein Produktionsvolumen von monatlich bis zu 10 Millionen Dosen.
Ein zweiter russischer Impfstoff, EpiVakCorona, wurde vom Forschungszentrum Vektor in Nowosibirsk entwickelt und im Oktober 2020 registriert.
Zur Behandlung von seltenen, lebensbedrohlichen Krankheiten (orphan diseases) will Russland einen neuen Fonds auflegen, der sich durch Einnahmen aus der ab 2021 erhöhten Einkommensteuer speisen soll. Das Register seltener Krankheiten umfasst derzeit 258 Einträge.
Die zu erwartenden höheren Ausgaben für seltene Krankheiten bieten auch Chancen für ausländische Pharmahersteller. Die schwedische Sobi Pharm hat bereits angekündigt, Hämophilie-Präparate in Russland lokal produzieren zu lassen.
Eine besondere Rolle spielen die „lebensnotwendigen Arzneimittel“ (russische Abkürzung ЖНВЛП), auf die rund die Hälfte des Marktvolumens entfällt. Für sie gelten staatlich festgelegte Preisobergrenzen. Die Liste wird jährlich aktualisiert und 2021 auf 788 Präparate erweitert, darunter Medikamente zur Behandlung von Sars-Cov-2 sowie Corona-Impfstoffe.
Bei der Preisbestimmung zieht die Behörde elf Referenzländer wie Frankreich, Rumänien und Belgien sowie das Herstellerland heran. Der Preis in Russland darf nicht höher sein als der niedrigste Preis der Vergleichsländer.
Aufgrund der niedrigen Festpreise hatten sich 2020 einige Hersteller nicht mehr an den Beschaffungsrunden für lebensnotwendige Arzneimittel beteiligt, weil sie mit den Erlösen ihre Produktionskosten nicht decken könnten. Bei einigen Krebsmedikamenten mussten die Preise daher deutlich angehoben werden.
Das Ministerium für Industrie und Handel drängt darauf, den Wertanteil von Medikamenten aus russischer Produktion an der Liste unentbehrlicher Arzneimittel von derzeit 32 Prozent auf 40 Prozent bis 2023 zu erhöhen. Bei der Menge haben einheimische Präparate bereits einen Anteil von fast 80 Prozent.
Beim Verbrauch von Arzneimitteln verlieren Importprodukte insgesamt an Bedeutung. Auf sie entfielen 2019 laut DSM Group 30 Prozent am Wertvolumen des Pharmamarktes. Weitere 21 Prozent waren lokal produzierte Medikamente ausländischer Hersteller.
Einheimische Hersteller profitieren von ihren günstigeren Preisen. Der durchschnittliche Verkaufspreis eines Medikaments im Apothekenverkauf lag im Oktober 2020 bei 239 Rubel (rund 2,60 Euro).
Die umsatzstärksten Segmente des russischen Pharmamarktes sind Medikamente für den Verdauungstrakt und Stoffwechsel sowie zu Behandlung von Krebserkrankungen.
ATC-Gruppe | Umsatzanteil | Mengenanteil |
---|---|---|
A - Alimentäres System und Stoffwechsel | 15,5 | 15,6 |
L - Antineoplastische und immunmodulierende Substanzen | 15,1 | 1,3 |
J - Antiinfektiva für systemische Gabe | 12,5 | 9,4 |
C - Cardiovasculäres System | 10,2 | 12,3 |
N - Nervensystem | 9,1 | 14,8 |
R - Respirationstrakt | 8,9 | 13,1 |
B - Blut und blutbildende Organe | 7,4 | 7,6 |
M - Muskel- und Skelettsystem | 5,9 | 6,4 |
G - Urogenitalsystem und Sexualhormone | 5,3 | 1,8 |
D - Dermatika | 4,1 | 10,8 |
Die Regierung erarbeitet zurzeit die Strategie Pharma-2030. Ziel ist es, mehr Wirksubstanzen und pharmazeutische Hilfsstoffe im Land zu produzieren.
In den kommenden zehn Jahren will Russland alle lebensnotwendigen Arzneimittel selbst herstellen. Das Volumen der Inlandsproduktion soll sich gegenüber 2017 (4,47 Milliarden Euro) um das 3,5-Fache vergrößern. Die Medikamentenexporte sollen sich bis 2030 verfünffachen (2019: 500 Millionen Euro). Zu den Schwerpunkten der Strategie gehören Produktionskapazitäten für Onkologie-Präparate, Herz- und Gefäßkrankheiten, Pädiatrie und Geriatrie.
In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Ankündigungen weiterer Investitionsprojekte. So plant die sibirische Pharmasyntez ein neues Werk für Arzneiwirkstoffe. Eine große Wirkstoffproduktion errichtet das Unternehmen Aktiwny komponent bei Sankt Petersburg.
Solopharm will bis 2022 in Sankt Petersburg Anlagen mit einer Jahreskapazität von 2 Milliarden Tabletten errichten. Bayer lokalisiert beim Moskauer Hersteller Makiz-Pharma drei Präparate zur Behandlung von Arthrose und Erkältungskrankheiten.
Unternehmen | Apothekenumsatz 2019 in Mrd. Rubel *) | Marktanteil |
Bayer | 44,8 | 4,4 |
Sanofi | 38,9 | 3,8 |
Novartis | 37,2 | 3,6 |
Teva | 35,2 | 3,4 |
OTCPharm | 34,6 | 3,4 |
Servier | 33,4 | 3,3 |
Krka | 29,1 | 2,8 |
GlaxoSmithKline | 28,8 | 2,8 |
Berlin-Chemie | 27,5 | 2,7 |
Gedeon Richter | 26,2 | 2,6 |