Mit dem Ende des Lockdown ist die indische Wirtschaft seit Juni 2020 wieder langsam angelaufen. Für die meisten Branchen ist das Vorkrisenniveau aber noch lange nicht erreicht. (Stand: 15. September 2020)
Indien fährt nach einem zweimonatigen Lockdown seit dem 1. Juni 2020 die Wirtschaft wieder schrittweise hoch. Doch von einem Normalzustand sind die meisten Branchen nach wie vor weit entfernt. Dies hat weitreichende Folgen nicht nur für die direkt betroffenen Unternehmen, sondern strahlt auch auf die globalen Lieferketten, in die Indiens Industriesektor immer stärker eingebunden ist, aus.
Homeoffice nur für wenige Branchen eine Option
In bestimmten Segmenten des Dienstleistungssektors (IT, Finanzen, Telekommunikation, Rechts- und Unternehmensberatung etc.) sind die Störungen weniger gravierend, da die Unternehmen ihren Betrieb zumindest in Teilen aufrechterhalten können, indem die Mitarbeiter vom Homeoffice aus arbeiten. Seit dem 4. Mai dürfen die Firmen ihre Mitarbeiter auch wieder in den Büros arbeiten lassen, allerdings unter strengen Auflagen zur Hygiene und Social Distancing.
Im Einzelhandel wurden ebenfalls die meisten Beschränkungen wieder aufgehoben, doch die anhaltende Coronakrise drückt auf die Stimmung bei den Konsumenten und die Geschäfte bleiben leer. Besonders betroffen sind weiterhin das Gastgewerbe und die Tourismusbranche. Auch wenn die Beschränkungen im Inlandsverkehr inzwischen gelockert wurden, hält sich die Reisefreude bei den Inderinnen und Indern in Grenzen.
Der Onlinehandel zählt zu den Krisengewinnern. Lieferdienste wie Flipkart, Amazon und Big Basket verzeichnen Umsatzzuwächse von 30 Prozent und mehr. Dieser Trend wird sich auch weiter fortsetzen, da viele Unternehmen ihre Onlineangebote stark ausgeweitet haben oder ausbauen wollen.
Verarbeitende Industrie erholt sich nur langsam
Indiens Industrieproduktion kam während der Ausgangssperre weitestgehend zum Erliegen. Zwar dürfen die Unternehmen inzwischen wieder fertigen, allerdings müssen dabei strenge Hygiene- und Abstandsauflagen erfüllt werden, was die Betriebe vor logistische und organisatorische Herausforderungen stellt. Weil zudem in vielen Fällen während des Lockdown Teile der Belegschaft in ihre Dörfer zurückgekehrt sind, können die betroffenen Firmen die Produktion nicht wieder komplett hochfahren.
In zahlreichen Branchen fehlt aber auch schlicht die Nachfrage und die Kapazitäten sind weiter nicht ausgelastet. In der Kfz-Industrie beispielsweise ging im 1. Quartal des Finanzjahres 2020/21 (1. April bis 30. Juni 2020) der Absatz von Pkw um 78 Prozent und die Produktion um 85 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurück. Zwar erholt sich die Nachfrage inzwischen wieder, aber vom Vorkrisenniveau ist die Branche noch weit entfernt.
Textilexporte sollen um bis zu 35 Prozent sinken
Mit der Textil- und Bekleidungsindustrie ist eine weitere Schlüsselbranche in Schieflage geraten. Durch die Pandemie ist die Nachfrage in den wichtigsten Absatzmärkten USA und Europa eingebrochen und erholt sich nur sehr schleppend. Für das Finanzjahr 2020/21 erwartet der indische Marktforscher CRISIL Research ein Minus bei den Ausfuhren von 30 bis 35 Prozent gegenüber der Vorjahresperiode. Angesicht der schwachen Binnen- und Exportnachfrage dürfte die Produktion von Textilien und Bekleidung frühestens Mitte 2021 wieder das Vorkrisenniveau erreichen, so die Analyse von CRISIL.
Auf die Bauindustrie kommen ebenfalls schwere Zeiten zu. Die Branche musste aufgrund der Immobilienkrise bereits in den letzten zwei Jahren Federn lassen. Indien wollte ursprünglich bis 2024 insgesamt 1,3 Billionen Euro in Infrastrukturprojekte pumpen. Falls im Zuge der COVID-19-Pandemie nun verstärkt öffentliche Mittel für Rettungs- und Konjunktur stützende Maßnahmen benötigt werden, dürfte der finanzielle Spielraum für den Verkehrswegebau, neue Flughäfen und andere Projekte enger werden.
Sinkende Investitionen drücken Nachfrage nach Maschinen und Ausrüstung
Knapp die Hälfte des deutschen Exportvolumens von 12 Milliarden Euro nach Indien entfällt auf Maschinen und Industrieausrüstung. Ein langanhaltender Abschwung der indischen Wirtschaft durch die Coronapandemie wird sich negativ auf die Anlageinvestitionen auswirken, so die Prognose der indischen Zentralbank (Reserve Bank of India (RBI)). Davon dürften auch wichtige Abnehmerbranchen von deutschen Maschinen und Anlagen wie die Kfz- und Zulieferindustrie, die Metallverarbeitung sowie die chemische und petrochemische Industrie betroffen sein. Die Nachfrage nach Ausrüstung für die Stromerzeugung, -übertragung und -verteilung könnte ebenfalls unter der Krise leiden, so die Einschätzung des Branchenverbands Indian Electrical and Electronics Manufacturers 'Association (IEEMA).
Die Regierung will die Krise allerdings auch für eine Neuausrichtung ihrer Wirtschaftspolitik nutzen. In Schlüsselbranchen wie der Chemie- und Pharmaindustrie, der Kfz-Branche sowie der Elektro- und Elektronikfertigung soll die lokale Wertschöpfung erhöht werden. Indien will sich zudem als alternativer Produktionsstandort in Asien positionieren. Mit dem Relaunch des Förderprogramms Make in India als Make in India, for the world sollen Industrieunternehmen nach Indien gelockt werden. Falls dadurch Neu- und Erweiterungskapazitäten in der verarbeitenden Industrie entstehen, hätte dies auch positive Auswirkungen auf die Maschinennachfrage, so die Einschätzung des Industrieverbands CII.
Mehr Informationen zu Branchen in Indien bietet Ihnen unser Branchencheck.
Von Boris Alex
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New Delhi