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Lohn- und Lohnnebenkosten | Georgien
Ungeachtet vieler Erwerbsloser fehlen in Georgien Fachkräfte. Eine umfangreiche Bildungsreform soll das Berufsschulwesen stärken und das Hochschulstudium praxisnäher ausrichten.
10.06.2020
Von Uwe Strohbach | Tiflis
Georgiens offizielle Arbeitslosenquote ist hoch. Seit 2010 fällt sie im Trend. 2019 betrug sie mit 221.000 Erwerbslosen 11,6 Prozent. Die reale Arbeitslosigkeit ist einschließlich unfreiwilliger Teilzeit- sowie ineffektiver Beschäftigung mit etwa 30 Prozent weit höher. In den Städten waren 2019 mit 17,4 Prozent dreimal so viele Personen wie auf dem Land (5,5 Prozent) ohne Job. Bei den 20- bis 24-Jährigen waren es circa 30 Prozent und bei den 25- bis 29-Jährigen 20 Prozent. Jeder dritte Arbeitslose hat einen Hochschulabschluss.
Das Statistikamt will ab 2020 die Zahl der Arbeitslosen und die Arbeitslosenrate nach international üblichen Standards ermitteln. Personen, die Nahrungsmittel und andere Güter vorwiegend oder gänzlich für den Eigenbedarf herstellen, gelten nicht mehr als beschäftigt, sondern als arbeitslos. Sie werden die Arbeitslosenrate nach oben treiben. Hinzukommen noch die negativen Folgen der Coronaepidemie.
Von den heute offiziell 1,7 Millionen Beschäftigten sind nur 50 Prozent abhängig Beschäftigte. Ein Drittel davon entfällt auf öffentlich Bedienstete. Das geringe Gewicht abhängig Beschäftigter an der Beschäftigtenzahl weist auf einen wenig entwickelten regulären Arbeitsmarkt hin. Viele der sogenannten Selbstbeschäftigten, darunter Familienmitglieder in Bauern- und Farmerwirtschaften, Straßenhändler und kleine Dienstleister wären lieber fest angestellt. Sie müssten eher als arbeitssuchend erfasst werden.
Die hohe Anzahl der Selbstbeschäftigten und Arbeitslosen lässt ein flexibel nutzbares Arbeitskräftepotenzial vermuten. In der Praxis aber stoßen die Arbeitgeber häufig auf Probleme bei der Personalsuche. Aktuell werden im Privatsektor vorrangig qualifizierte Verkaufsmanager, Buchhalter, Ingenieure, Finanzfachkräfte, Programmierer, Controller, medizinisches Personal und technisch orientierte Facharbeiter gesucht. Das Arbeitsangebot konzentriert sich auf die Hauptstadt Tiflis und die Region Imeretien.
Bevölkerung (1.1.2019; in Mio.) | 3,72 |
Erwerbspersonen (Bevölkerung älter als 15 und jünger als 65 Jahre, in Mio.) | 2,25 |
Erwerbstätige (in Mio.) | 1,91 |
Arbeitslosenquote, offizielle (in %) | 11,6 |
Analphabetenquote (in %) | 0,2 |
Universitätsabschluss (in % der Erwerbspersonen) | 26,6 |
Eine 2019 gestartete Reform auf allen Bildungsebenen sieht in den kommenden Jahren massive Investitionen vor. Schwerpunkte sind der quantitative und qualitative Ausbau der dualen Berufsschulausbildung, die Entwicklung eines bedarfsgerechten und praxisorientierten Hochschulwesens sowie der Aufbau eines effektiven Systems für Umschulungen.
Georgiens Hochschulwesen steht auf einer soliden, transparenten und weitestgehend korruptionsfreien Grundlage. Es verfügt seit vielen Jahren über ein Akkreditierungsverfahren zur Qualitätssicherung. Arbeitgeber beklagen jedoch, dass die Ausbildung an den Universitäten bisher wenig praxisrelevant und bedarfsgerecht sei.
Viele Firmen lösen das Fachkräfteproblem oft mit interner Ausbildung und Schulung über "training on the job". Informationen zu Berufsschulen sind beim Ministerium für Bildung und Wissenschaft abrufbar. Einige Tausend Georgier studieren an deutschen Hochschulen. Das Centrum für Internationale Migration und Entwicklung (CIM) unterstützt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die berufliche Integration von rückkehrinteressierten Hochschulabsolventen, so auch von Absolventen aus Georgien (Programm "Rückkehrende Fachkräfte").
Georgische Arbeitnehmer verfügen über gute Fremdsprachenkenntnisse, vor allem in Russisch, Englisch und Deutsch. Der Fremdsprachenschwerpunkt hat sich bei jüngeren Managern vom Russischen aufs Englische verschoben.
Die Personalsuche läuft zumeist über ein persönliches Kontaktnetz. Zur Anwerbung von Praktikanten und Mitarbeitern führen viele Unternehmen in den Hochschulen regelmäßig Präsentationen durch. Ausländische Firmen nutzen bei der Suche nach Managern der oberen und mittleren Ebene oft die Dienste professioneller internationaler Personalberater. Die Vermittlungsgebühren liegen bei etwa 10 bis 15 Prozent eines Jahresgehalts. Dafür gewähren die Agenturen unter Umständen eine Garantie von drei bis sechs Monaten für den Verbleib des Arbeitnehmers im Unternehmen. Anderenfalls wird kostenlos für Ersatz gesorgt. Georgische Firmen sehen bislang kaum Nutzen in kostenpflichtigen Personaldiensten. Den Arbeitsämtern sprechen westliche Firmen noch wenig Kompetenz zu.
Die Deutsche Wirtschaftsvereinigung (DWV), Tiflis, bietet Unterstützung bei der Suche nach Mitarbeitern an. Dank eines Netzwerkes und einer Fachkräftedatenbank kann sie praxiserfahrene Mitarbeiter und gut ausgebildete Absolventen passgenau vermitteln. Firmen, die zweisprachige Mitarbeiter suchen, wird anhand des gewünschten Mitarbeiterprofils unverbindlich ein Fragebogen übersandt. Auf Anfrage werden Lebensläufe der Kandidaten zugestellt.
Die erneuerten und international gut vernetzten Gewerkschaften sind nach dem Regierungswechsel im Herbst 2012 wieder ein anerkannter Partner für den sozialen Dialog zwischen Regierung und den Vertretern der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Die Regierung unter Michail Saakaschwili (2004 bis 2013) übte mit ihrer neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik Druck auf die Arbeitnehmervertreter aus, sich aus der Mitbestimmung zurückzuziehen. Sie erschwerte die Gründung neuer Gewerkschaften. Infolgedessen ist die Zahl der organisierten Gewerkschaftsmitglieder um gut 100.000 auf etwa 150.000 zurückgegangen. Die Mitglieder sind in 21 Verbänden organisiert.
Einen sozialen Dialog nach westlichem Muster gibt es in Georgien nicht. Forderungen der Gewerkschaften, wie zum Beispiel nach einem realen Mindestlohn, werden von der Regierung bislang nicht erfüllt. In letzter Zeit kam es vor allem im Erz- und Kohlebergbau, in der Bauwirtschaft (Gleisbau), im Handel (Supermarktketten) und im Sozialwesen als Folge schlechter Arbeitsbedingungen und Bezahlung zu Arbeitsniederlegungen. Von den Streiks sind nicht selten große Unternehmen betroffen, die staatliche Aufträge ausführen.