Special | Deutschland | Klimawandel lokal
Klimaschutz erfordert neue Energie- und Transportnetze
Die Industrieländer setzen immer mehr Klimaschutzpläne um. Dabei werden komplett neue Netzinfrastrukturen entstehen. Eine Trendanalyse am Beispiel Deutschlands.
10.01.2022
Von Lukas Latz | Berlin
Die Europäische Union (EU) will bis 2050 klimaneutral werden. Deutschland strebt dieses Ziel bis 2045 an. Das Klimaschutzgesetz verpflichtet Deutschland, CO2-Emissionen um 65 Prozent im Verhältnis zum Referenzwert von 1990 zu senken. Die Studie „Klimapfade 2.0 – Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft“, die der Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) in Zusammenarbeit mit der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) erstellt hat, zeigt auf, welche Investitionen dafür notwendig sind.
Um die Klimaziele zu erreichen, müssen Unternehmen ihre konventionellen Technologien modernisieren oder durch umweltschonende Lösungen ersetzen. Der Bedarf an Investitionen ist historisch beispiellos. Gefragt sind Modernisierungen des Stromnetzes und der Aufbau bislang fast komplett fehlender Netzinfrastrukturen, wie zum Beispiel für Wasserstoff oder die Speicherung und Nutzung von CO2.
Da diese moderneren Technologien oftmals teurer, bisher nicht industriell skaliert und in Teilen auch noch wenig erprobt sind, müssen zusätzliche Hürden überwunden werden. Für viele Branchen, etwa in der energieintensiven Produktion von Stahl oder Zement, fehlen bislang die geeigneten politischen Rahmenbedingungen, um die notwendigen zusätzlichen Neuinvestitionen zu generieren.
Die Trends im Überblick:
Strombedarf verdoppelt sich – neue Netze sind gefragt
Durch den Verzicht auf fossile Energieträger wird Strom in Zukunft auch für die Wärmeproduktion und als Kraftstoff für Autos verwendet werden. Deutschlands Stromproduktion wird sich daher annähernd verdoppeln müssen: von 507 Terrawattstunden im Jahr 2019 auf 993 Terrawattstunden im Jahr 2045.
Neben dem Bau neuer Kraftwerke (Solarparks, Windparks und Gas- beziehungsweise Wasserstoffkraftwerke) erfordert dies Investitionen in das Stromnetz: Da die produzierten Strommengen bei Solar- und Windparks abhängig vom Wetter und daher nicht zuverlässig planbar sind, braucht das Netz mehr Speicherkapazitäten und mehr Grenzkuppelstellen zu Nachbarländern. Die Modernisierung des Stromnetzes verlangt bis 2030 jährliche Mehrkosten von 13 Milliarden Euro.
Straßen brauchen Ladeinfrastruktur und Wasserstofftankstellen
Im öffentlichen Raum müssen laut der Studie rund 1 Million Ladestationen für E-Autos entstehen. Für den Güterverkehr müssen an Autobahnen rund 500 Wasserstofftankstellen gebaut werden. Auf ausgewählten Strecken kommt auch ein Stromoberleitungsnetz für E-Lkw infrage.
Damit der Personen- und Güterverkehr vermehrt von der Straße auf die Schiene wechselt, benötigt Deutschland ein größeres Schienennetz. Ausweichkapazitäten braucht es vor allem zwischen den Großstädten, an den wichtigen Verkehrsknoten.
Wasserstoff und CO2-Abscheidung erfordern ganz neue Netze
Der Transport von Wasserstoff ist kompliziert und teuer. Neue Technologien sind in der Entwicklung und industriellen Skalierung. Um Wasserstoff CO2-neutral in der Nähe von großen Wind- und Solarparks (etwa in der Ukraine) produzieren und dann nach Deutschland exportieren zu können, braucht es eine ganz neue Pipeline-Infrastruktur. Die Studie des BDI hält es für notwendig, dass ein europäisches Wasserstoffnetz bis 2030 entsteht.
Auch ein Pipeline-Netzwerk für CO2 muss entstehen. In der Papier- und in der Zementindustrie besteht nur wenig Potenzial, die unvermeidbaren Prozessemissionen zu senken. Um Klimaneutralität zu erreichen, schlägt der BDI vor, für diese Sektoren eine Carbon Capture, Utilisation and Storage-Infrastruktur (CCUS) aufzubauen. Das bei der Produktion entstehende Kohlendioxid soll in der Industrieanlage abgeschieden, in ein Pipeline-Netz eingeführt und über dieses Netz in unterirdische Lagerstätten oder zur Nutzung in der nachgeschalteten Industrie geführt werden. Führend bei der Anwendung von CCUS sind derzeit unter anderem die skandinavischen Länder, so ein Sprecher des Baustoffproduzenten HeidelbergCement.
Aus Sicht von HeidelbergCement sind vor allem solche Länder im Hinblick auf CCUS Innovationstreiber, in denen es durch die Kunden bereits heute eine starke Nachfrage nach Baumaterialien mit einem geringen CO2-Fußabdruck gibt, und in denen auch die politischen Rahmenbedingungen die industrielle Transformation hin zur Klimaneutralität fördern. Das ist in nordeuropäischen Länder der Fall, wo wegweisende CCUS-Projekte auch durch die Unterstützung vonseiten der Politik, die Verfügbarkeit von Fördermitteln und die gesellschaftliche Akzeptanz der Technologie ermöglicht würden. In Norwegen und Schweden betreibt HeidelbergCement bereits Modellprojekte zur CO2-Abscheidung.
Darüber hinaus will das Unternehmen die Technologie in großem Maßstab auch an anderen Standorten einsetzen. Bis 2030 strebt das Unternehmen mit mehreren bereits gestarteten CCUS-Projekten eine CO2-Reduktion von bis zu 10 Millionen Tonnen an. Hierbei betont der Konzern die Bedeutung geeigneter politischer Rahmenbedingungen: Entscheidend seien der Aufbau einer CO2-Transportinfrastruktur, die Emissionsquellen mit Speichereinrichtungen oder der nachgeschalteten Industrie verbindet, wie auch die deutliche Beschleunigung von Genehmigungs- und Planungsverfahren. Außerdem müssten die Kosten für CCUS gesenkt und die Nachfrage nach CO2-neutralen Produkten gestärkt werden – unter anderem durch Anreize oder Mindestquoten für die Abnahme klimafreundlicher Produkte im öffentlichen Beschaffungswesen.
Trends sind für alle Unterzeichnerstaaten des Paris-Abkommen relevant
Die Trends, die die BDI-Studie am Beispiel Deutschlands markiert, sind nicht allein auf Deutschland beschränkt. Alle Industrie- und Schwellenländer haben das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet, in diesem Rahmen ehrgeizige nationale Ziele zur CO2-Reduzierung vereinbart und streben bis 2045 oder bis 2060 die Klimaneutralität an. Neue Infrastruktur, die den Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft ermöglicht, ist also in der ganzen Welt gefragt.