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Für Gazas Wirtschaft ist der Waffenstillstand erst der Anfang
Der Wiederaufbau des Gazastreifens und seiner Wirtschaft wird lange dauern. Pläne dafür gibt es bereits. Ihre Umsetzung erfordern aber Stabilität und eine gesicherte Finanzierung.
20.10.2025
Von Wladimir Struminski | Jerusalem
Mit dem am 8. Oktober 2025 in Kraft getretenen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas beginnt eine neue Phase für den Gazastreifen. Die Vereinbarung sieht eine Übergangsverwaltung durch ein technokratisches, apolitisches palästinensisches Komitee unter internationaler Aufsicht ("Friedensdirektorium") vor. Nach einer geplanten Reform soll die Palästinensische Autonomiebehörde die Regierungsverantwortung übernehmen.
Die politische Neuordnung ist entscheidend für die wirtschaftliche Öffnung und die Mobilisierung internationaler Investitionen. Der Rückzug der Hamas aus Regierungsstrukturen gilt als Voraussetzung für institutionellen Aufbau und Vertrauen bei Gebern.
Aufbaupläne: Sonderzonen, Investitionsbehörde und Milliardenbedarf
Während der Übergangsperiode soll ein Expertengremium einen umfassenden Wirtschaftsplan erarbeiten, der unter anderem die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone mit zollpolitischen Anreizen für Exporteure vorsieht. Internationale Gruppen haben bereits Investitionsvorschläge eingebracht. Die Verwaltung der Wiederaufbaumittel soll dem Friedensdirektorium obliegen.
Der sogenannte Blair-Plan ergänzt diese Strategie durch die Gründung einer Investitionsförderungs- und Wirtschaftsentwicklungsbehörde für Gaza. Diese soll Großprojekte in Wohnungsbau und Infrastruktur steuern – unter Einbindung öffentlich-privater Partnerschaften und Investitionsgarantien zur Mobilisierung privater Kapitalgeber.
Der Aufbauplan Ägyptens und der Arabischen Liga ist detaillierter ausgearbeitet und kombiniert städtebauliche Erneuerung mit Wirtschaftszonen für Industrie, Handwerk, Landwirtschaft, Logistik, Handel und öffentliche Dienstleistungen.
Ein zentrales Element ist die Errichtung separater Industrieansiedlungszonen sowie Gewerbegebiete für Lebensmittelverarbeitung und handwerkliche Kleinbetriebe. Parallel dazu soll die landwirtschaftliche Produktion durch die Zuteilung von Anbauflächen gestärkt werden.
Der Plan gliedert sich in drei Phasen über fünf Jahre:
- Phase 1 (6 Monate): 3 Milliarden US$
- Phase 2 (bis 2027): 20 Milliarden US$
- Phase 3 (bis 2030): 30 Milliarden US$
Diese Beträge gelten als Richtwerte, der tatsächliche Mittelbedarf dürfte darüber hinausgehen. Die Palästinensische Autonomiebehörde schätzt den Gesamtbedarf auf 67 Milliarden US-Dollar (US$), die Vereinten Nationen gehen von rund 70 Milliarden US$ aus. Ein Wiederaufbau ist nur durch eine breit getragene internationale Gebergemeinschaft und privates Kapital realisierbar.
Westjordanland: Zulieferpotenzial und wirtschaftliche Verflechtung
Der Wiederaufbau Gazas könnte auch die Wirtschaft des Westjordanlands beleben. Die dortige Industrie könnte Zulieferungen wie Nahrungsmittel, medizinische Produkte, Baumaterialien, Werkzeuge, Textilien sowie Ausrüstung für die Wasserwirtschaft bereitstellen.
Voraussetzung ist jedoch, dass Israel den Warentransport nach Gaza genehmigt. Viele Unternehmen im Westjordanland berichten von Unterauslastung ihrer Kapazitäten – der Wiederaufbau könnte hier dringend benötigte Nachfrage generieren. Wegen der fortdauernden Aussperrung palästinensischer Arbeitspendler von ihren Arbeitsplätzen in Israel lag die Arbeitslosenquote in Gaza und dem Westjordanland insgesamt laut Weltbank im 1. Quartal 2025 bei 29 Prozent.
Wirtschaftliche Ausgangslage: Einbruch und Unsicherheit
Die wirtschaftliche Basis für den Wiederaufbau ist schwach. Der seit Oktober 2023 andauernde Gazakrieg hat die Wirtschaftsleistung massiv einbrechen lassen. Laut dem Palästinensischen Zentralamt für Statistik (PCBS) lag das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im 1. Quartal 2025 rund 30 Prozent unter dem Stand des letzten Vorkriegsquartals.
Kennziffer | Palästinensische Gebiete insgesamt | Westbank | Gazastreifen |
---|---|---|---|
BIP | -28,3 | -16,4 | -82,6 |
Wertschöpfung der Industrie | -33,0 | -30,0 | -90,0 |
Wertschöpfung der Bauwirtschaft | -46,0 | -38,0 | -98,0 |
Wertschöpfung des Dienstleistungssektors | -27,0 | -17,0 | -81,0 |
Wertschöpfung des Agrarsektors | -32,0 | -17,0 | -91,0 |
Arbeitslosenquote (in % der Erwerbspersonen) | 51,2 | 35,0 | 80,0 |
Im 1. Quartal 2025 erreichte das inflationsbereinigte BIP in Gaza nur noch 13,6 Prozent des Vorkriegsniveaus. Mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung stammt aus Gesundheits-, Sozial- und Bildungsdienstleistungen – größtenteils durch internationale Hilfe getragen. Gaza exportiert weder Waren noch Dienstleistungen. Sein Anteil am gesamten palästinensischen BIP liegt bei nur 3 Prozent, obwohl rund 40 Prozent der Bevölkerung dort leben.
Die Weltbank erwartet in ihrer aktuellen Herbstprognose für 2025 ein reales BIP-Wachstum von 3,9 Prozent und schätzt den Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze auf 44 Prozent.