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Russland hat den Höhepunkt der Coronapandemie überschritten. Die Regierung will die Wirtschaft mit einem 65 Milliarden Euro schweren Konjunkturplan zurück auf Wachstumskurs bringen. (Stand: 2. Juni 2020)
Von Hans-Jürgen Wittmann | Moskau
Der „Nationale Aktionsplan für den Wiederaufbau von Wirtschaft, Beschäftigung und Einkommen sowie langfristige strukturelle Änderungen“ soll dafür sorgen, dass die russische Wirtschaft bis Ende 2021 um mindestens 2,5 Prozent wächst. Die Realeinkommen der Bevölkerung sollen steigen, die Arbeitslosigkeit auf unter 5 Prozent sinken, die Armutsquote unter 12,3 Prozent (Jahr 2019) fallen und Strukturreformen angeschoben werden. Als wichtigste Treiber fungieren Investitionen, Digitalisierung, Importsubstitution, schnellerer Wohnungsbau, bessere Bildung, aktive Beschäftigungspolitik und mehr Sozialleistungen.
Der Aktionsplan enthält etwa 500 Einzelmaßnahmen und wird in drei Phasen von 1. Juli 2020 bis 31. Dezember 2021 umgesetzt: "Stabilisierung" bis Herbst 2020, "Erholung" bis Mitte 2021 und "Wachstum" ab zweitem Halbjahr 2021. In der ersten Phase bis September 2020 soll ein weiterer Einbruch der Wirtschaftsleistung verhindert werden. Anschließend sollen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Einkommen der Bevölkerung bis Juni 2021 auf das Vorkrisenniveau steigen. Ziel für die zweite Jahreshälfte 2021 ist es, dass Wirtschaft und Realeinkommen stärker wachsen als vor der Coronakrise.
Zur Umsetzung der Maßnahmen ab 1. Juli 2020 stehen aus dem föderalen Haushalt 5 Billionen Rubel (etwa 65,1 Milliarden Euro, 1 Euro = 76,80 Rubel, EZB-Wechselkurs vom 2.06.2020) zur Verfügung. Werden Investitionen in langfristige Infrastruktur-Großprojekte einberechnet, beträgt die Summe sogar 7,3 Billionen Rubel (etwa 95 Milliarden Euro).
Die Regierung möchte die Bruttoanlageinvestitionen um 4,5 Prozent pro Jahr erhöhen. Wichtigste Treiber sollen große Infrastrukturprojekte werden, in die etwa 28,6 Milliarden Euro aus dem föderalen Haushalt fließen. Zusätzliche Mittel sollen private Geldgeber über Investitionsschutzabkommen (SZPK), ein neues Instrument der russischen Regierung zur Investitionsförderung, aufbringen. Die ursprünglich auf fünf Jahre ausgelegten Gelder für Großprojekte werden bereits in den nächsten vier Jahren ausgegeben und sollen eine zusätzliche Nachfrage nach Investitionsgütern erzeugen. Darunter für den Ausbau der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) und der Transsibirischen Eisenbahn (Projektkosten 2020-2021: 8,85 Milliarden Euro), den Bau der Mautautobahn Moskau-Kasan (7,95 Milliarden Euro) und den Ausbau der Autobahn "R-255 Sibir" Nowosibirsk-Kasan (590 Millionen Euro).
Der Aktionsplan sieht etwa 6,5 Milliarden Euro für die von der Coronapandemie besonders schwer betroffenen Branchen vor. Fluggesellschaften erhalten etwa 300 Millionen Euro zur Deckung angefallener Kosten. Die Luftfahrtindustrie bekommt 1,8 Milliarden Euro an staatlichen Garantien für den Kauf von 59 Suchoi-Superjets (SSJ100) zugewiesen. Zur Unterstützung des Wohnungsbaus stehen Subventionen zur Senkung des Hypothekenzinssatzes auf unter 8 Prozent sowie 390 Millionen Euro zur Fertigstellung von Langzeitbaustellen zur Verfügung. Die Tourismusbranche wird ab 1. Januar 2020 durch die Senkung des Mehrwertsteuersatzes von 20 Prozent auf 7 Prozent entlastet.
Der Aktionsplan macht bis 2021 Vorgaben für die staatliche Beschaffung von 13,6 Milliarden Euro. Damit möchte die Regierung nicht nur die Nachfrage ankurbeln, sondern auch die Importsubstitution ausweiten. Geplante Anschaffungen von Kraftfahrzeugen und Krankenwagen durch staatliche Betriebe bei russischen Herstellern sollen auf das laufende Jahr 2020 vorgezogen werden. Zudem möchte die Regierung Quoten für die Beschaffung von Staatskonzernen festlegen, um einheimischen Waren den Vorzug vor Importen zu gewähren. Die Höhe der Quoten soll von den Kompetenzen russischer Hersteller abhängen.
Die Regierung setzt zur Unterstützung kleiner und mittelständischer Firmen (KMU) sowie von Einzelunternehmern (Selbständigen) vor allem auf die in den bisherigen drei Hilfspaketen angekündigten Maßnahmen. Im Fokus stehen die Befreiung von Steuerzahlungen (mit Ausnahme der Mehrwertsteuer), die Reduzierung von Sozialversicherungsbeiträgen, Zuschüsse für die Bezahlung von Löhnen und Gehältern sowie die Gewährung von vergünstigten Krediten und zinslosen Darlehen. Zudem wird das Moratorium auf Behördenkontrollen bis Ende 2021 verlängert. Direkte Hilfszahlungen sind hingegen nicht vorgesehen.
Die Digitalisierung und die Senkung administrativer Hürden sollen die Entwicklung der Wirtschaft beschleunigen. So sollen der Dokumentenaustausch zwischen Unternehmen und Behörden über das Onlineportal „Gospotschta“ vereinfacht, neue eGovernment-Dienstleistungen eingeführt und die Vergabe von Krediten oder Hypotheken mittels digitaler Blockchain-Plattformen ermöglicht werden. Die Regierung möchte ein „einzelnes Fenster“ zum Erhalt von Genehmigungen und Lizenzen einführen.
Die Regierung nutzt die Gunst der Stunde zur Flexibilisierung des Arbeitsrechts und zur Einführung neuer Beschäftigungsformen. Dadurch sollen Arbeitslose schneller wieder ins Erwerbsleben einsteigen. Arbeitgeber können ab 1. Juli 2020 ihre Mitarbeiter leichter und ohne Zusatzvereinbarung (dopolnitelnoye soglasheniye) ins Homeoffice schicken. Ab 1. Oktober 2020 wird ein Mindestlohn pro Stunde eingeführt, der die Einstellung von Teilzeitbeschäftigten für bis zu drei Monate erleichtert.
Sozialleistungen von etwa 9,1 Milliarden Euro sollen zum Anstieg der Realeinkommen beitragen. Dazu greift der Konjunkturplan die bereits in den drei Hilfspaketen der Regierung zur Abmilderung der Folgen der Coronapandemie angekündigten Einmalzahlungen für Familien mit Kindern, die Anhebung des Kinder- und Arbeitslosengelds und des Mindestlohns sowie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf. Zur effizienteren Verteilung der Sozialleistungen sieht der Aktionsplan die Einführung einer „Sozialkasse“ ab 1. Januar 2021 vor. Dieser Mechanismus soll sicherstellen, dass die Gelder in Form von Direktzahlungen zielgerichtet bei den Bedürftigen ankommen.
Mit den geplanten 65 Milliarden Euro hat die Regierung das bis dato größte Paket zur Bekämpfung der Folgen der Coronapandemie geschnürt. Kritiker bemängeln jedoch, dass ein Großteil der Gelder umverteilte Mittel aus den bereits genehmigten drei Hilfsprogrammen und vorgezogene Ausgaben für die nationalen Projekte umfasse. Zudem setze die Regierung nicht auf die Stärkung der Kaufkraft der Bevölkerung, sondern auf Investitionen in Großprojekte, was nur ausgewählten Branchen und Konzernen zu Gute komme. Das Erreichen der strukturellen Ziele des Plans könnte sich als kompliziert herausstellen: Insbesondere das Wachstum der Zahl kleiner und mittlerer Hightech-Unternehmen um 10 Prozent pro Jahr und das Wachstum der Nicht-Rohstoff-Exporte um 5 Prozent stellen eine Herausforderung dar.
Hinweis: Informationen zu den drei Corona-Hilfspaketen der russischen Regierung finden Sie hier: "Covid-19: Maßnahmen der Regierung".