Die Coronapandemie hat die russische Wirtschaft weniger ausgebremst als befürchtet. Inzwischen sind viele Industriezweige wieder auf Wachstumskurs. (Stand: 3. August 2021, letzte Aktualisierung: 22. Oktober 2021)
Russland gehört zu den Ländern mit den meisten Corona-Infektionen. Trotzdem kommt die Wirtschaft besser durch die Pandemie als viele andere große Volkswirtschaften. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) schrumpfte 2020 real um 3,0 Prozent und damit moderat im Vergleich zum globalen Durchschnitt von minus 3,5 Prozent und zur EU von minus 6,1 Prozent.
Für 2021 erwartet das russische Wirtschaftsministerium ein reales BIP-Wachstum von 3,8 Prozent und für 2022 von 3,2 Prozent. Etwas pessimistischer ist die OECD. Sie prognostiziert für 2021 einen realen BIP-Anstieg um 3,5 Prozent und für 2022 um 2,1 Prozent.
Großindustrie und Staatsbetriebe dominieren die Wirtschaft
Dass die russische Wirtschaft die Krise relativ gut überstanden hat, liegt vor allem an ihrer Struktur, die weniger von Dienstleistungen und mittelständischen Betrieben geprägt ist als in Westeuropa. Stattdessen dominieren Industrie- und Rohstoffunternehmen, die häufig von Staatsaufträgen und weniger von der privaten Nachfrage abhängen.
Außerdem ist Russland gering in internationale Wertschöpfungsketten eingebunden. Die einheimische Industrie bezieht in vergleichsweise geringem Umfang Vorprodukte aus dem Ausland und war deshalb von Problemen in den Lieferketten nur wenig betroffen. Das stärkt in der Regierung jene Kräfte, die sich für noch mehr Importsubstitution aussprechen.
Zudem hatte der Kreml bei der im September 2020 einsetzenden zweiten Infektionswelle keinen neuen Lockdown verhängt. Fabriken, Geschäfte und Restaurants konnten ihren Betrieb weitgehend fortführen, ebenso der Verkehrssektor.
Gesunkene Kaufkraft trübt Konsumlaune
Dennoch hat die Pandemie in der Wirtschaft ihre Spuren hinterlassen. Steigende Arbeitslosigkeit und sinkende real verfügbare Einkommen (2020: minus 3,5 Prozent) dämpfen die Konsumstimmung.
Auch die enorme Übersterblichkeit könnte sich mittelfristig negativ auswirken. Der Statistikbehörde Rosstat zufolge waren zwischen April und Dezember 2020 rund 360.000 Menschen mehr gestorben als im Vorjahreszeitraum. Die Ratingagentur AKRA schätzt, dass die hohe Mortalität das Land 2021 zwischen 0,2 und 0,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung kosten wird.
Staatsverschuldung bleibt gering
Nach mehreren Jahren mit Haushaltsüberschüssen betrug das Defizit 2020 Angaben des Finanzministeriums zufolge rund 50 Milliarden Euro und entsprach etwa 3,8 Prozent der Wirtschaftsleistung. Der IWF schätzte das Defizit für 2020 auf 4,1 Prozent und die gesamte Staatsverschuldung auf 19,3 Prozent des BIP.
Der Finanzminister rechnet für die Jahre 2021 bis 2023 mit einem Fehlbetrag zwischen 1 und 2 Prozent des BIP. Der Haushalt 2021 ist mit einem Ölpreis von 45,30 US-Dollar je Barrel kalkuliert. Anfang August 2021 kostete die russische Sorte Urals rund 70 US-Dollar je Fass.
Neben der niedrigen Verschuldung bieten die großen Gold- und Währungsreserven (Stand 23. Juli 2021: 594 Milliarden US-Dollar) und der gut gefüllte Wohlstandsfonds (1. Juli 2021: 188 Milliarden US-Dollar) Spielraum für neue Antikrisen-Maßnahmen.
Leitzinserhöhungen sollen Inflation bremsen
Von der Geldpolitik sind dagegen keine Wachstumsimpulse zu erwarten. Seit März 2021 hob die Zentralbank den Leizins mehrfach an, zuletzt am 22. Oktober um 75 Basispunkte auf 7,5 Prozent. Grund ist die Inflation, die sich nach Schätzungen des Wirtschaftsministeriums bis zum 18. Oktober auf knapp 7,8 Prozent im Jahresvergleich beschleunigte und damit den höchsten Stand seit Februar 2016 erreichte. Die Regierung vereinbarte darüber hinaus bereits Preisobergrenzen mit Lebensmittelherstellern.
Wachstumsbranchen
Wachstumsbranchen sind Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung sowie die Chemieindustrie. Außerdem steigen die Investitionen ins Gesundheitswesen, die Arzneimittel- und Impfstoffproduktion, in die Modernisierung der Raffinerien und die Metallurgie.
Aufholeffekte am Fahrzeugmarkt
Die Fahrzeugbranche litt unter der Coronapandemie besonders stark. Der Absatz von neuen Pkw und leichten Nutzfahrzeugen sank 2020 um 9 Prozent auf 1,6 Millionen Einheiten. Um die schwache Inlandsnachfrage anzukurbeln, verlängert die Regierung die Absatzfördermaßnahmen bis 2023. Im 1. Halbjahr 2021 stieg der Verkauf von neuen Pkw und leichten Nutzfahrzeugen im Vergleich zum ersten Halbjahr des Vorjahres um 36,9 Prozent auf 870.749 Autos. Die Association of European Businesses (AEB) hob daraufhin ihre Prognose für den russischen Automobilmarkt 2021 von plus 2,1 Prozent auf 9,8 Prozent (auf 1,756 Mio. neue Pkw und leichte Nfz) an.
Die Fahrzeugproduktion wird 2021 in etwa den Vorjahreswert erreichen, schätzt das Industrieministerium. Im Jahr 2020 sank die Herstellung um 11 Prozent auf etwa 1,3 Millionen Fahrzeuge. Trotz der aktuellen Absatzflaute setzen Automobilwerke und Kfz-Zulieferer mehrere Investitionsvorhaben um.
Chemieindustrie profitiert von Inlandsnachfrage
Die Produktion von Chemikalien stieg 2020 um 7,2 Prozent im Vergleich zur Vorjahresperiode. Der hohe Bedarf an Desinfektionsmitteln und Mineraldünger wirkte sich positiv aus. Hersteller von Pharmazeutika steigerten ihren Ausstoß sogar um 23 Prozent. Sie investieren in Produktionsstätten für Impfstoffe und Medikamente gegen Covid-19, aber auch in herkömmliche Arzneimittel im Rahmen der Importsubstitution. Auch deutsche Unternehmen wie Bayer und Stada erweitern ihre Kapazitäten.
Einige der größten Investitionsvorhaben des Landes sind in der Petrochemie angesiedelt. Die Regierung unterstützt neue Megaprojekte mit Steueranreizen und rechnet auf diese Weise mit mindestens elf Bauvorhaben und Investitionen von rund 45 Milliarden Euro.
Absatz von Nahrungsmitteln und Umwelttechnik steigt
Lieferchancen für deutsche Ausrüstungshersteller bieten die pulsierende Nahrungsmittelindustrie und die Landwirtschaft. Beide Branchen profitieren von der Lokalisierungspolitik des Landes und vom Einfuhrembargo für westliche Nahrungsmittel.
Neue Projekte für Umwelttechnik und erneuerbaren Energien sind angekündigt. Die großen Staatsprogramme zur Sanierung der Wasserwirtschaft und Abfallbehandlung laufen weiter. Der von der EU geplante CO2-Grenzausgleich (Carbon Border Adjustment Mechanism) zwingt russische Industriebetriebe dazu, den Kohlendioxidausstoß bei der Produktion zu senken. Mehr Informationen dazu bietet der GTAI-Bericht "Russland drückt beim klimaschutz aufs Tempo".
Importsubstitution bleibt wichtiges Ziel
Zu erwarten ist, dass die russische Regierung unter dem Eindruck von Covid-19 und den jüngsten US-Sanktionen ihre Politik der Importsubstitution verstärkt. Da es bei wichtigen Gütern zur Bekämpfung der Krankheit Engpässe bei der einheimischen Produktion gab und gleichzeitig die Importe ins Stocken gerieten, werden Impfstoffe, Medikamente, Medizintechnik und Schutzausrüstung verstärkt im Inland hergestellt. Ausführliche Informationen zum Protektionismus in Russland finden Sie im GTAI-Special "Offene Märkte".
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Von Gerit Schulze
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Moskau