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Rechtsbericht | Ukraine | Vertragsrecht

Ukraine: Wann liegt ein Fall von höherer Gewalt vor?

Kampfhandlungen auf dem ukrainischen Territorium wirken sich auf vertraglichen Beziehungen aus. Es stellt sich die Frage nach der Erfüllung und Anpassung der Verträge.

Von Yevgeniya Rozhyna | Bonn

Der nachfolgende Beitrag gibt einen Überblick über geltende Regelungen im ukrainischen Recht. Natürlich muss immer der Einzelfall betrachtet werden. Grundsätzlich gehen Vertragsklauseln den Gesetzesvorschriften vor und sind daher im Falle von Lieferausfällen oder Verzögerungen bei Zahlungen anzuwenden. Kommt eine Vertragspartei ihren Verpflichtungen aus dem Vertrag nicht oder nur ungenügend nach, so trägt sie die Haftung hierfür. Unter Umständen kann die Vertragspartei zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet werden. Eine Vertragspartei haftet nicht, wenn sie beweisen kann, dass die Nicht- beziehungsweise die Schlechterfüllung des Vertrages aufgrund von höherer Gewalt beziehungsweise "Force majeure“ nicht möglich ist.

Regelungen im ukrainischen Recht

Das ukrainische Recht enthält Vorschriften zur höheren Gewalt sowohl im Zivilgesetzbuch (im Folgenden: ZGB) als auch im Wirtschaftsgesetzbuch (im Folgenden: WirtGB).

Sofern vertraglich nichts anderes vereinbart ist, tritt gemäß Art. 218 WirtGB und Art. 617 ZGB eine Befreiung von der Haftung für Nicht- oder Schlechterfüllung von vertraglichen Verpflichtungen ein, wenn der Schuldner beweisen kann, dass eine ordnungsgemäße Erfüllung infolge von höherer Gewalt unmöglich geworden ist. Das heißt, dass die Umstände, die zur Nichterfüllung des Vertrages geführt haben, für beide Vertragsparteien außerordentlich und objektiv unabwendbar waren. Neben den unmittelbaren Kampfhandlungen, die zu Lieferausfällen und Verzögerungen führen, können es auch eingeführte Sanktionen gegen die Lieferpartner sein oder auch die Mobilmachung der Arbeitskräfte.  

Davon zu unterscheiden ist die wesentliche Änderung von vertraglichen Umständen. Die Änderung von Umständen gilt als schwerwiegend, wenn sie sich derart verändert haben, dass die Parteien, sofern sie dies hätten vorhersehen können, den Vertrag gar nicht oder zu ganz anderen Bedingungen abgeschlossen hätten. In diesem Fall kann der Vertrag gemäß Art. 652 ZGB mit der Zustimmung der Parteien geändert oder aufgehoben werden, wenn sich aus dem Vertrag und dem Wesen der Pflichten nichts anderes ergibt.

Zu beachten ist ferner, dass das Vorliegen der höheren Gewalt nicht komplett von der Leistungspflicht entbindet. Der Schuldner bleibt verpflichtet, nach dem Wegfall dieser Umstände seine Leistung zu erbringen. Eine weitere Rechtsfolge nach Art. 263 ZBG ist die Hemmung der Verjährungsfrist. Nach Art. 263 ZGB führen Umstände höherer Gewalt zur Hemmung der Verjährungsfrist. Ab dem Tag, an dem der Umstand der höheren Gewalt nicht mehr besteht, läuft die Verjährungsfrist weiter.

Wenn die Vertragsparteien keine Einigung über eine Vertragsanpassung oder -aufhebung erzielt haben, kann die Aufhebung und Anpassung vor Gericht bei Vorliegen folgender Voraussetzungen beantragt werden:

  • die Parteien sind zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses davon ausgegangen, dass eine solche Änderung der Umstände nicht eintritt;
  • die Änderung der Umstände ist auf Gründe zurückzuführen, die die betroffene Vertragspartei bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt nicht überwinden konnte;
  • die Vertragserfüllung würde das Verhältnis der wirtschaftlichen Interessen der Vertragsparteien stören und die betroffene Partei derart benachteiligen, dass sie den beim Vertragsschluss erwarteten Vorteil verlieren würde;
  • aus dem Wesen des Vertrages und den Handelsbräuchen folgt nicht, dass die einschlägige Partei das Risiko der Änderung der Umstände trägt.

Wann liegt höhere Gewalt vor?

Das ukrainische Recht regelt den Begriff der höheren Gewalt in den Vorschriften nicht. Es zählt aber Fälle auf, die nicht unter höhere Gewalt fallen:

  • Nicht- oder Schlechterfüllung eines Vertrages durch die Gegenpartei;
  • mangelnde Verfügbarkeit der zur Erfüllung der Verpflichtung erforderlichen Waren auf dem Markt;
  • fehlende Zahlungsfähigkeit.

Hingegen zählt das Gesetz über die Industrie- und Handelskammer im Art. 14.1 einige Fälle der höheren Gewalt auf, unter anderem Kriege, Aufstände, Unruhen, militärische Embargos, Ausgangssperren, Epidemien, Import- und Exportbeschränkungen und von der Regierung angeordnete Quarantäne.

Angesichts der aktuellen Lage hat die Handelskammer am 28. Februar 2022 ein "allgemeines“ Zertifikat vorgelegt, "(…) das ab dem 24. Februar 2022 die russische Militär-Aggression als Force majeure (…)“ qualifiziert, die dazu führt, dass die Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Vertrag objektiv nicht möglich ist. Das Zertifikat muss nicht beantragt werden und steht auf der Seite der Industrie- und Handelskammer zum Abruf bereit.

Beweispflicht

Zu beachten ist, dass das Vorliegen eines Zertifikats nicht automatisch zur einer Haftungsbefreiung führt. Vielmehr muss der Schuldner im Einzelfall die Unvorhersehbarkeit der Umstände (hier kommt es auf den Zeitpunkt des Vertrages an), die Unvermeidbarkeit der Folgen für die Vertragsabwicklung und den Kausalzusammenhang zwischen der Unmöglichkeit der konkreten Leistung und der konkreten Vertragsverletzung beziehungsweise Schlechterfüllung darlegen und beweisen.

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