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Wirtschaftsumfeld | Ukraine | Krieg in der Ukraine

Ukraine erstellt Plan für schnellen Aufschwung nach dem Krieg

In zehn Schritten soll die ukrainische Wirtschaft möglichst schnell den Anschluss an die westlichen Industrieländer schaffen. Das Rezept: weniger Staat und mehr Privatinitiative.

Von Gerit Schulze | Berlin

Der Wiederaufbau nach dem Krieg bleibt ein Kernthema für die ukrainische Regierung. Mit einem 10-Punkte-Plan möchte das Wirtschaftsministerium das Geschäftsleben liberalisieren. Ziel ist es, die Produktion auf das Niveau höher entwickelter Industrieländer zu bringen.

Das ist ein weiter Weg. Im Jahr 2021 betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine nur 4.800 US-Dollar (US$) je Einwohner. Der Durchschnitt der OECD-Länder (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) lag bei 42.000 US$.

Doch wenn der Krieg vorbei ist, will die Ukraine wirtschaftlich durchstarten. Als erstes Etappenziel strebt Kiew bis 2032 ein BIP pro Kopf von 12.000 US$ an. Die Wirtschaftsleistung soll jährlich um durchschnittlich 7 Prozent wachsen.

  • Schritte 1 bis 5: Weniger Staat und mehr Rechtsstaatlichkeit

    Mit einer umfassenden Liberalisierung will die Ukraine nach Kriegsende die Konjunktur in Schwung bringen. Innerhalb von zehn Jahren soll sich die Wirtschaftsleistung verdreifachen.

    Der Plan von Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko setzt auf einen Aufschwung durch die Entfesselung der Marktkräfte und weitreichende Liberalisierung. "Wirtschaftliche Freiheit beginnt da, wo der Staat endet", schrieb die Ministerin in einem Beitrag für die Ukrainska Pravda. Auf dem Weg zu mehr Freiräumen für die Wirtschaft und hohem Wachstum sind zehn Schritte geplant.

    Schritt 1: Staatsquote senken

    Als ersten Schritt drängt das Wirtschaftsministerium darauf, die Staatsquote in der Ukraine deutlich zu senken - also den Anteil der Staatsausgaben am BIP. Die Quote lag vor Kriegsausbruch laut Swyrydenko bei 40 bis 45 Prozent. Innerhalb von zehn Jahren könnte der Anteil auf 20 Prozent sinken, hofft die Ministerin. Dazu sollen unter anderem niedrigere Steuern beitragen. Allerdings dürften der anstehende Wiederaufbau und die sozialen Verwerfungen infolge des Krieges in der Anfangsphase eher eine aktivere Rolle des Staates verlangen.

    Schritt 2: Diversifizierung der Wirtschaft

    Der russische Angriffskrieg hat gezeigt, wie anfällig eine Volkswirtschaft ist, in der Großbetriebe dominieren. Die Zerstörung der beiden Stahlwerke Asovstal und Illich Steel in Mariupol haben die gesamte Metallurgiebranche des Landes gelähmt. Die Chemieindustrie wurde durch den Beschuss des Koksherstellers Avdiivka Coke Plant im Donezker Gebiet und der Raffinerie Krementschuk im Gebiet Poltawa stark in Mitleidenschaft gezogen.

    Die Alternative dazu sei eine Wirtschaft, in der kleine und mittelständische Betriebe dominieren, ähnlich wie in Polen, Tschechien oder dem Vereinigten Königreich, argumentiert Wirtschaftsministerin Swyrydenko. In den wohlhabenden Ländern habe der Mittelstand einen Anteil von 60 Prozent und mehr an der Wirtschaftsleistung. In der Ukraine liege er bei unter 50 Prozent, wobei es zu wenig kleine und Kleinstunternehmen gebe. 

    Schritt 3: Freies regulatorisches Umfeld

    Swyrydenko tritt dafür ein, den Unternehmen weitgehende Freiheiten zu gewähren. Sie können "alles machen, was nicht die Freiheit anderer Menschen einschränkt oder Gefahren für die Gesellschaft hervorruft."

    Schon während des Krieges wurden nach Angaben des Wirtschaftsministeriums 500 Genehmigungsvorschriften abgeschafft und durch eine Informationspflicht ersetzt. Die Unternehmen müssen dabei nur noch erklären, dass sie die Vorschriften erfüllen. Die Fristen für den Erwerb von Eigentumsrechten an Grundstücken sollen von 18 auf 3 Monate sinken. Bei Wiederaufbauprojekten ab einem Wert von 500.000 Euro sind städtebauliche Auflagen und Einschränkungen nicht bindend, sofern die baurechtlichen Vorschriften eingehalten werden. 

    Geplant ist außerdem, die als lästig empfundenen Kontrollbesuche durch Brandschutz- oder Arbeitsschutzbehörden abzuschaffen. Diese Aufgaben können Experten von Versicherungen übernehmen, die ein Interesse daran haben, dass versicherte Betriebe ihre Auflagen einhalten.

    Schritt 4: Rechtsstaatlichkeit

    Die Unternehmer sollen ihre Rechte verteidigen können. Dafür braucht die Ukraine ein unabhängiges und modernes Gerichtssystem und funktionierende Rechtschutzorgane. Der am 23. Juni 2022 verliehene Status eines EU-Beitrittskandidaten sollte die Reform des Rechtssystems beschleunigen.

    Swyrydenko schlägt eine Abkürzung auf dem Weg zu mehr Rechtssicherheit vor und verweist auf das Beispiel Kasachstan. Der zentralasiatische Staat hat in seinem Zivilrechtssystem für Rechtsstreitigkeiten und Streitbeilegung das englische Recht eingeführt, das weltweit bei Geschäftstransaktionen bevorzugt wird. Das könnte ein Vorbild sein, um die Rechtsbeziehungen der ukrainischen Unternehmen untereinander auf eine solide Grundlage zu stellen, meint die Vizepremierministerin.

    Schritt 5: Export als Wachstumsmodell

    Die Exportquote des ukrainischen BIP lag 2021 bei 33 Prozent: Einer Wirtschaftsleistung von 198 Milliarden US$ stand ein Ausfuhrwert von 66 Milliarden US$ gegenüber. “Aber unser Export hat einen großen Nachteil: 75 Prozent entfallen auf Rohstoffe“, beschreibt Swyrydenko. Für viele entwickelte Länder sei die Ukraine nur ein Rohstofflieferant. "Wir verkaufen ihnen eine ganze Tonne Weizen für 350 US-Dollar und sie verkaufen uns dafür ein iPhone."

    Das Wirtschaftsministerium würde die Quote gern umdrehen und den Rohstoffanteil an den Exporten auf 25 Prozent senken. Drei Viertel der Erlöse sollen aus verarbeiteten Produkten kommen.

    Qualität und Wertschöpfung der exportierten Erzeugnisse müssten steigen, verlangt Swyrydenko. Kanada verkaufte laut ihren Angaben 2020 rund 75 Millionen Tonnen Agrargüter im Ausland und damit ähnlich viel wie die Ukraine. Allerdings nahm Kanada damit 55 Milliarden US$ ein, während die Ukraine nur auf 22 Milliarden US$ kam.

    Die blockierten Häfen der Ukraine könnten den Trend zu hochwertigeren Exporten beschleunigen. Da die Exportkapazitäten auf der Schiene begrenzt sind, lohnt es sich, teurere Waren auf die Reise ins Ausland zu schicken.

  • Schritte 6 bis 10: Investitionen und Innovationen fördern

    Um die Wirtschaft nach einem Friedensschluss anzukurbeln, braucht die Ukraine Investitionen, Infrastruktur und Innovationen.

    Die Ukraine möchte das Bruttoinlandsprodukt in den kommenden zehn Jahren verdreifachen. Dafür sind mehr Investitionen und Innovationen nötig. Besonders die Privatwirtschaft soll sich aktiv beim Wiederaufbau einbringen. Der Staat will das Risiko der Investitionen mit Garantien abfedern.

    Schritt 6: Intensivierung der Investitionen

    Höherwertigere Produkte und mehr Wertschöpfung lassen sich nur durch mehr Investitionen erreichen. Vor dem Krieg wurden in der Ukraine lediglich 10 bis 20 Prozent der Wirtschaftsleistung in Anlagegüter investiert. Um einen Entwicklungssprung zu vollziehen, müsste sich dieser Wert mindestens verdoppeln. Fünf Jahre lang sollten 70 Milliarden bis 80 Milliarden US$ in die Wirtschaft investiert werden, um den technologischen Rückstand aufzuholen.

    Wirtschaftsministerin Swyrydenko schlägt vor, den ukrainischen Banken mehr Staatsgarantien für die Kreditvergabe zu gewähren. Außerdem sollten die westlichen Industriestaaten Garantien für Investitionen ihrer Unternehmen in der Ukraine erteilen. Kiews Vorschlag: Die Staaten der G7 und der EU stellen fünf Jahre lang Garantien in Höhe von 0,2 Prozent ihrer Bruttoinlandsprodukte bereit. Damit könnten jährlich 100 Milliarden US$ aktiviert werden, um das hohe Risiko von Investitionen abzusichern.

    Schritt 7: Verbesserung der Logistik auf dem Landweg

    Die Verkehrsverbindungen in die Europäische Union müssen ausgebaut werden. Dazu gehören neue Grenzübergänge und Zollstationen, Autobahnen und Fernstraßen sowie Schienenwege mit der europäischen Normalspur. Ziel der Ukraine ist es, jährlich 200 Millionen Tonnen auf der Straße oder Schiene exportieren zu können und damit viermal so viel wie bislang. Vor Russlands Angriff lieferte das Land 170 Millionen Tonnen Güter ins Ausland, davon allerdings 117 Millionen Tonnen über den Seeweg.

    "Private Eigentümer sind flexibler und entscheidungsfreudiger als die Staatsbetriebe."
    Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko

    Schritt 8: Rückzug des Staates durch Massenprivatisierung

    Als wichtigen Impuls für die Belebung der Konjunktur sieht das ukrainische Wirtschaftsministerium die Privatisierung von Staatsbetrieben an. Am 1. September 2022 startete eine neue Auktionsrunde zur Veräußerung bislang unrentabler Unternehmen. "Private Eigentümer sind flexibler und entscheidungsfreudiger", um solche Produktionsstätten wettbewerbsfähig zu machen, glaubt Ministerin Swyrydenko.

    In staatlicher Hand verbleiben sollen lediglich natürliche Monopole wie die Eisenbahn, die Verwaltung der Seehäfen oder die Post. Diese erfülle wichtige soziale Aufgaben durch ihr enges Filialnetz, über das in der Ukraine die Renten ausgezahlt werden.

    Schritt 9: Öffentlich-private Partnerschaften für soziale Objekte

    Die russischen Angriffe zielen häufig auf die soziale Infrastruktur der Ukraine. Laut Kyiv School of Economics wurden bis Ende August 2022 rund 1.500 Schulen, 800 Kindergärten und über 900 medizinische Einrichtungen durch Beschuss beschädigt.

    Der Wiederaufbau dieser Gebäude beansprucht viel Geld und Zeit, wenn der Staat sich allein darum kümmert, schreibt das Wirtschaftsministerium. Darum will Kiew private Investoren im Rahmen von Public Private Partnerships (PPP) für die Sanierung gewinnen. Sie sollen die Gebäude übernehmen, modernisieren und solange betreiben können, bis ihr Kapitaleinsatz sich rentiert hat, so die Vorstellung der Politik.

    Dafür müssten aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen für PPP optimiert werden. In der Vergangenheit hatten lange Vorlaufzeiten für die Projekterstellung dazu geführt, dass dieses Instrument von Investoren kaum genutzt wurde. Anfang 2022 befanden sich landesweit nur 31 PPP-Projekte in der Umsetzung. Die meisten davon betreffen Vorhaben in der Wasserwirtschaft und Wärmeversorgung.

    Ein Änderungsgesetz für die Umsetzung von PPP liegt zurzeit im Parlament zur Abstimmung. Es soll öffentlich-private Partnerschaften attraktiver machen, in dem der Staat mehr finanzielle Risiken übernimmt und Garantien gewährt, die Verfahren vereinfacht und die Bearbeitungszeiten verkürzt.

    Schritt 10: Durchbruch bei Innovationen

    Angesichts der Kriegserfahrungen will die Ukraine ihr Militärpotenzial und die eigene Rüstungsindustrie stärken. Vorbild ist dabei Israel, das die Innovationskraft von Start-ups nutzt, um moderne Militärtechnologien zu entwickeln. Kiew strebt eine engere Kooperation zwischen privaten Entwicklungsbüros und staatlichen Rüstungskonzernen an.

    Bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung hat das Land noch enormen Nachholbedarf. Laut Weltbank gab die Ukraine 2020 nur 0,4 Prozent ihrer Wirtschaftskraft für Forschungszwecke aus. In Deutschland lag der Anteil bei 3,1 Prozent; in Israel sogar bei 5,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

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