Wirtschaftsausblick | Ukraine
Wirtschaft wächst trotz Krieg, Zöllen und Fachkräftemangel
Unsichere Energieversorgung, fehlende Arbeitskräfte und neue Zölle machen der ukrainischen Wirtschaft das Leben schwer. Aber der Wiederaufbau hält die Konjunktur auf Kurs.
02.12.2025
Von Waldemar Lichter | Warschau
Topthema: Angriffe auf den Energiesektor setzen Wirtschaft unter Druck
Die Sicherung der Energieversorgung wird mehr und mehr zur zentralen Herausforderung für die ukrainische Wirtschaft, aber auch für die Bevölkerung. Russland verstärkte seine Attacken auf Kraftwerke, Umspannwerke und Stromnetze. Die Angriffe im Herbst 2025 verursachten beispiellose Schäden an kritischer Infrastruktur.
Die Verluste sind riesig: Im November 2025 waren rund zwei Drittel der Stromerzeugungskapazitäten beschädigt. Besonders hart betroffen sind Wärmekraftwerke und die Gasinfrastruktur. Die Zerstörungen führen zu täglichen Stromausfällen von bis zu 12 Stunden. Kritische Infrastruktur wie Krankenhäuser, Wasserwerke und Verkehrsnetze funktionieren nur eingeschränkt. Betriebe und Industrie müssen ihre Produktion drosseln oder stoppen.
Auch die Gasförderung ist infolge der gezielten Angriffe eingebrochen. Ganze Regionen sind deshalb auf teure Gasimporte aus EU-Ländern angewiesen, um die Winterversorgung zu sichern. Die Ukraine bemüht sich derzeit, weitere Bezugsquellen für Gas zu erschließen, um die eigenen Verluste auszugleichen. Dazu gehören vor allem Lieferungen von US-amerikanischem LNG über Polen und über Griechenland.
Dezentralisierung der Energieversorgung als Antwort
Angesichts der Zerstörungen der zentralen Energieinfrastruktur hat sich in der Ukraine eine Neuausrichtung vollzogen: Investitionen in dezentrale Energieerzeugung nehmen rasant zu. Dabei geht es vor allem darum, die Abhängigkeit vom landesweiten Netz zu reduzieren und eine fortlaufende Funktionsfähigkeit auch bei Ausfall großer Kraftwerke zu erhalten. Entsprechende Maßnahmen führen nicht nur Privatunternehmen in der Industrie, Handel und anderen Sektoren durch, darunter der Metallkonzern Metinvest oder der Tankstellenbetreiber OKKO. Auch Kommunen investieren im Bereich der kritischen Infrastruktur, neben in die Energie- beispielsweise auch in die Wasserversorgung.
Schwieriges Jahr 2026 erwartet
Die massiven Schäden und Zerstörungen im Energiesektor bremsen die gesamte ukrainische Wirtschaft aus. Im Herbst 2025 wurden deshalb die Prognosen deutlich nach unten korrigiert. Fehlende Energie bedroht nicht nur die Versorgungssicherheit der Bevölkerung und der Wirtschaft. Sie erschwert auch den Wiederaufbau und macht die Ukraine abhängiger von weiteren internationalen Finanzhilfen, humanitären Programme und von teuren Importen.
Die meisten Experten bezeichnen die Wirtschaftslage in der Ukraine Ende 2025 als fragil. Die Stimmung ist gedämpft, das Wirtschaftswachstum hat sich deutlich abgeschwächt. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) nahm im 1. Halbjahr 2025 um nur noch 0,8 Prozent zu. Die Abschwächung wird vor allem auf intensivierte Angriffe auf die kritische Infrastruktur zurückgeführt, die das verarbeitende Gewerbe behindern.
Aber auch die landwirtschaftliche Produktion hat Rückschlage erlitten. Belastend wirken sich die stark steigenden Energie- und Arbeitskosten aus. Auch die Industrie wirkt gehemmt. Einzig die Bauproduktion legt kräftig zu, wird aber durch hohe Kostensteigerungen bei Energie und Baustoffen sowie fehlende Arbeitskräfte belastet.
Für das Gesamtjahr 2025 erwartet die Europäische Kommission in ihrer Herbstprognose deshalb nur ein moderates BIP-Wachstum von 1,6 Prozent und 1,5 Prozent für 2026 – deutlich weniger als noch vor einem halben Jahr. Der Ausblick für 2027 wurde zwar wegen der vom anlaufenden Wiederaufbau erwarteten Impulse auf 4,7 Prozent angehoben. Dieses Szenario ist jedoch bei einer Fortsetzung des Krieges hoch unsicher.
Wachstumsimpulse von Konsum und Investitionen
Der private Verbrauch wird laut Kommission 2025 um 5,6 Prozent zunehmen und auch in der Folgezeit ein bedeutender Wachstumstreiber bleiben. An Fahrt gewinnen die Bruttoanlageinvestitionen. Dafür sorgen zum einen die hohen Verteidigungsausgaben, darunter auch die Anstrengungen zum Aufbau einer eigenen Verteidigungsindustrie. Für Impulse sorgen Wiederaufbauprogramme, die Reparatur zerstörter Infrastruktur und Wohnungen. Hinzu kommen Investitionen in Logistik und Transportwege sowie Verlagerung von Produktionskapazitäten aus frontnahen Regionen an sicherere Standorte etwa in der Westukraine.
Deutsche Perspektive: Wiederaufbau wird große Chancen bieten
Das deutsch-ukrainische Handelsvolumen nahm im 1. Halbjahr 2025 um 19,5 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum zu – vor allem dank einem 30-prozentigen Zuwachs deutscher Warenexporte. Die Ukraine entwickelt sich damit zu einem zunehmend wichtigen Handelspartner für Deutschland in der Region, während die Bedeutung Russlands dramatisch gesunken ist.
Immer mehr Unterstützung für Investoren!
Dank der erweiterten Investitionsförderung und Maßnahmen, wie Made in Ukraine und den Industrieparks, bietet die Ukraine ein immer breiteres Portfolio an Anreizen für Investoren. Deutsche Unternehmen können zudem mit den Investitionsgarantien der Bundesregierung ihr Engagement umfangreich gegen Kriegsrisiken absichern. Falls auch Ihr Unternehmen ein Engagement plant, unterstützen unsere Regionalen Investitionsführer bei der Standortwahl!
Geschäftschancen für deutsche Unternehmen bieten sich im Zusammenhang mit der Wiederherstellung zerstörter und beschädigter Infrastruktur, Krankenhäuser, Wohnungen und anderen. Dringender Bedarf besteht bei kritischer Versorgungsinfrastruktur, vor allem im Energiesektor (Stromerzeugung, Stromnetze, Aufbau dezentraler Energiesysteme sowie erneuerbare Energien), aber auch bei Anlagen zur Wasserversorgung.
Einen weiteren Schwerpunkt könnten Geschäftsmöglichkeiten im Bau- und Baustoffsektor bilden. Der hohe Reparatur- und Wiederaufbaubedarf der Ukraine wird eine hohe Nachfrage nach Baumaterialien, Baumaschinen und -ausrüstungen auslösen. Mit einem großen Schub kann aber erst nach Kriegsende gerechnet werden.
Zahlreiche ausländische, darunter auch deutsche Unternehmen bereiten sich auf diese Zeit und die erwarteten Geschäftsmöglichkeiten bereits jetzt vor. Dazu gehören vor allem Baustoffhersteller, wie beispielsweise Knauf, Rehau (beide Deutschland), Kronospan (Österreich), Kingspan (Vereinigtes Königreich) oder der türkische Bau- und Baustoffkonzern Onur. Diese Unternehmen bauen eigene Produktionskapazitäten vor Ort auf, um den ukrainischen Markt direkt bedienen zu können.