Markets International 4/24 I Schwerpunkt Künstliche Intelligenz I Interview
"Das Window of Opportunity wird sich 2024 schließen“
Warum sich Unternehmen mit dem KI-Einsatz beeilen sollten, erklärt Andreas Zerfas, Chief Technology Officer (CTO) Digital Industrial Solutions bei German Edge Cloud, im Gespräch mit Markets International.
29.07.2024
Von Christina Otte, Christiane Süßel | Bonn
Herr Zerfas, wie schätzen Sie das Potenzial von KI für den Produktionsprozess ein und wo kommt KI heute schon zum Einsatz?
Grundsätzlich wird das Thema KI derzeit im industriellen Umfeld sehr intensiv beleuchtet. An verschiedenen Stellen gibt es etwa die ersten Ansätze für visuelle Inspektionen, um mit vereinfachten Prozessen Qualitätskontrollen durchzuführen. Bislang sichten in vielen Unternehmen noch Mitarbeiter tatsächlich acht Stunden lang Qualitätsmerkmale und bewerten sie. Auch kamerabasierte Lösungen sind als Alternative schon häufiger im Einsatz.
KI bringt jetzt deutlichen Auftrieb. Während beim klassischen Vorgehen hoher Aufwand und Data Scientists für das Training visueller Modelle und erforderlich waren, können mit KI-Unterstützung jetzt Fachabteilungen selbst Hand anlegen. Hier kommt unser neuer Service ONCITE Analytics VisionAI ins Spiel, den wir gemeinsam mit IBM auf der Hannover Messe vorgestellt haben.
Kamerasysteme filmen die Werkstücke von verschiedenen Positionen aus, um so Qualitätsmerkmale zu analysieren. KI sorgt für Tempo beim Anlernen der Systeme. Das bietet auch mit Blick auf den Fachkräftemangel und das Konzept Arbeit 4.0 Potenzial, Arbeitskräfte effizienter einzusetzen, sie mit KI zu unterstützen und von stupider Arbeit zu entlasten.
Inzwischen gibt es auch im multilingualen Bereich neuere Ansätze. Sprachübergreifende Anwendung mussten früher sehr komplex übersetzt werden. Mit Google haben wir auch auf der der Hannover Messe gezeigt, dass mit generativer KI verschiedenste Szenarien abgebildet werden können.
So kann beispielsweise ein Dokument, das etwa in Deutschland entstanden ist und die Basis für eine Anwendung darstellt, in Italien oder den USA angewendet werden, ohne dass es aufwändig reproduziert bzw. übersetzt werden muss. Diese Arbeitserleichterung bedeutet einen Geschwindigkeitsvorteil.
Markets International Ausgabe 4/24
Markets International 04/24 | © GTAIDieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift Markets International, Ausgabe 4/2024. Erfahren Sie, welche weiteren Beiträge die Ausgabe für Sie bereit hält.
German Edge Cloud hat das Produktionssystem ONCITE entwickelt. Warum war das notwendig und welche Probleme wurden dadurch im Produktionsprozess gelöst?
Die Digitalisierung wurde schon vor Jahrzehnten vorangetrieben, etwa mit dem Konzept Computer Integrated Manufacturing. Dicke Bücher wurden damit gefüllt, wie man mit der Unterstützung von Computern in verschiedenen Bereichen agieren kann, etwa im Product Life Cycle Management, bei der Produktionsplanung oder in der Logistik. Aber für die Umsetzung fehlte es oft an Datendurchgängigkeit und Kontextualisierung. Die klassische Industriesoftware weist zudem oft noch monolithische Strukturen auf.
Solche Systeme sind für eine spezifische Anwendung programmiert und es ist schwierig, eine neue Anforderung spontan zu ergänzen. Heute ist aber die Veränderungsgeschwindigkeit deutlich höher. Wir setzen bei unserem ONCITE Digital Production System auf einen Microservice-basierten Ansatz aus der Web-Technologie, den wir mit Red Hat umsetzen. Das ist die Basis für Transparenz, beispielsweise über alle Fertigungsprozesse, und bildet die Grundlage, IIoT-Daten oder KI sinnvoll für Optimierungen in der Fertigung zu nutzen.
Ein wichtiger Punkt ist, dass wir möglichst nah an der Echtzeit dran sind, wenn wir Daten aus der Produktion und den angeschlossenen Systemen sammeln, um darauf aufbauend fundierte Entscheidungen treffen zu können und Effizienzsteigerung zu ermöglichen. Oft bieten sich dafür hybride Strukturen mit Datenverarbeitung direkt vor Ort auf dem Shopfloor in Form von Edge Computing und ergänzenden Cloud-Anwendungen an. Das System funktioniert aber auch völlig abgeschottet in der Fabrik.
ONCITE ist also die Basis dafür, dass Daten gesammelt und aufbereitet werden, um auf diesem System KI aufzusetzen?
Genau, ONCITE DPS führt als Core strukturierte und unstrukturierte Daten aus verschiedensten Quellen und Systemen zusammen. Diese Funktion als Datendrehscheibe bildet die Basis, um die Daten im Kontext zu verstehen und sinnvoll zu nutzen. Darauf setzen verschiedene Lösungen auf, die sich dann recht schnell modular ergänzen lassen. Dazu gehört etwa, dass man den Unternehmen Transparenz bieten kann und dass man Lösungen etwa für das Energie Monitoring, für Traceability (Nachverfolgung) und für das Serialisieren einer Produktion hat.
Die Kombination mit dem DPS steigert dann auch den Nutzen von KI. Die gerade eben erwähnte visuelle Qualitätskontrolle mit KI ist ein gutes Beispiel. KI sorgt vor allem für ein deutlich schnelleres Anlernen in der Anwendung. Der Nutzen für die Optimierung der Fertigung wird dann erheblich gesteigert, wenn die Daten aus der Qualitätskontrolle über das DPS mit den Daten des gesamten Fertigungsprozesses in Verbindung gebracht werden.
Wie sind Sie die Entwicklung von ONCITE DPS angegangen?
Wenn wir die alte Applikationslandschaft mit monolithischer Struktur hätten beibehalten müssen, dann hätte die Übernahme von Altdaten einen großen Aufwand bedeutet. Aber mit unserer Anwendung konnten wir tatsächlich mit einer leeren Bausteinkiste starten und ganz viele neue Legosteine dort reinlegen.
Wir haben uns all jene Bausteine gesucht, die wir brauchen, um ein System neu zu entwickeln und die nötige Flexibilität schon in der Architektur zu verankern. Diese Teile haben wir entsprechend justiert und so angepasst, dass alles stimmig ist. Obendrauf haben wir dann noch die Funktionalität gepackt. Es gibt hier zwei Aspekte: Zum einen ist da das Thema Fachlichkeit. Der Kunde interessiert sich für Technologie eigentlich nur sekundär. Er will in erster Linie die Lösungen haben, etwa für Transparenz, Funktionen wie Track and Trace oder das Energiemonitoring.
Für ihn zählt: Wie kann ich mit dem System in meiner Fabrik Mehrwerte gewinnen? Wie kann ich meine Effizienz steigern, Prozesse optimieren oder Energie einsparen? Für den fachlichen Teil haben wir mit Kollegen kooperiert, die schon 20 oder 30 Jahre in der alten Welt in der Produktentwicklung und dem Produktmanagement gearbeitet haben. Sie haben Features definiert, die man benötigt, um möglichst effizient arbeiten zu können. Auf der anderen Seite steht die Technologie. Hier haben wir sehr schnell einen Lösungsansatz gefunden, indem wir mit Partnern zusammengearbeitet haben.
Welche Herausforderungen mussten Sie bewältigen?
Eine Herausforderung ist die Frage: Wo werden die Lösungen betrieben? Auf der einen Seite gibt es Kunden, die ihre Daten komplett in einer sogenannten „demilitarisierten Zone“ sichern möchten – also ohne Cloud und ohne jegliche Verbindung ins Internet. Es gibt aber auch andere, die sagen ich will gar kein Rechenzentrum mehr, ich will alles in der Cloud haben.
Die Technologie muss also zwei diametrale Ansätze abbilden. ONCITE DPS nutzt Red Hat Openshift. Die Software nutzt ursprünglich für die Cloud entwickelte Technologie, die man daher auch Cloud-Native-Technologie nennt. Sie muss auf Systemen von mehreren Providern wie etwa AWS (Amazon Web Services), Azure oder Google laufen.
Eine andere Frage lautet, wie komme ich ohne Internetverbindung in das lokale Netz der Fabrik, um dort Daten zu erfassen? Eine Lösung jenseits einer Cloud, also cloud independent, zu finden, war eine Herausforderung. Dieser Spagat war aus meiner Sicht unsere größte Hürde.
German Edge Cloud und die große Schwester Rittal, ein Marktführer bei Schaltschränken für die Industrie, sind nicht nur in Deutschland tätig. Entwicklungen, die Sie im eigenen Konzern nutzen, müssen Sie auch in anderen Weltteilen zum Laufen bringen. Welche Herausforderung war oder ist das für sie?
Weltweit Systeme zu installieren hat sich deutlich vereinfacht, seit man auf der Cloud basierend ausliefern kann. Ein lokaler Administrator muss dazu nur verstehen, wie er die Cloud-Lösung nutzen kann. Das haben wir bei Rittal eingeführt und sind mittlerweile weltweit in China, den USA, in Italien oder in Deutschland mit den Rittal-Werken live.
Vor Ort haben wir für die Einrichtung und Konfiguration einen Ansprechpartner, sodass die lokalen Anlagen angebunden sind und Daten liefern. Das haben wir gut im Griff. Eine Herausforderung ist es vielmehr, wenn politische und regionale Aspekte hinzukommen, die etwa für eine KI-Anbindung gelöst werden müssen.
Ein Beispiel: AWS ist global unterwegs, aber wenn Sie nach Asien und speziell nach China schauen, dann gibt es dort kein AWS in der Form, wie wir es kennen. Unsere Lösungen müssen Antworten auf solche kulturellen Überschneidungen geben. Mit dem Blick auf KI ist die Frage, wie viele Daten wollen Sie in der großen Wolke behalten? Sie brauchen ja eine große Datenmenge, um Algorithmen zu trainieren. Wenn sie aber eine Grenze passieren müssen und sie bestimmte Daten aus politischen Gesichtspunkten nicht von A nach B transferieren dürfen, ist das natürlich schwierig.
Wie sieht es mit dem weltweiten Vertrieb von KI-Lösungen aus?
Beim Vertrieb in Deutschland haben wir keine Probleme. Sobald wir aber Systeme länderübergreifend liefern, müssen wir schauen, wo liegen die Daten und wer kann im Sinne von Datensouveränität auf diese Daten zugreifen? Es gibt Kunden, die möchten ihre Daten gerne in Deutschland haben, weil hierzulande datenschutzrechtliche Grundlagen gelten, die es in anderen Ländern so nicht gibt.
Es gibt andererseits aber Länder wie China, die eine Offenlegungspflicht haben. Man muss dort offenlegen, welche Daten gespeichert werden und wie die Daten aussehen. Man weiß aber gar nicht, was mit den Daten dann passiert. Je nachdem, welche Dienste Sie zur Verfügung stellen, müssen sogar Sie sogar den Source-Code der Applikation offenlegen.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, damit noch mehr deutsche Mittelständler wie Rittal vom KI-Boom profitieren können?
Die Nutzung von KI im industriellen Umfeld ist sehr wichtig, allein schon, um die Spitzenposition weltweit behaupten zu können. Große Unternehmen haben natürlich eigene Abteilungen mit IT-Kompetenz, die sich um die KI-Einführung kümmern und auch selbst in den entsprechenden Feldern aktiv sind. Viele kleine und mittelständische Unternehmen haben in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge von Outsourcing immer weniger in ihre IT investiert und sich aus guten Gründen auf ihr Kerngeschäft fokussiert.
Auch wenn der Trend ein Stück weit wieder rückläufig ist, fehlt es bei ihnen oft an Kompetenz und Personal, um sich tatsächlich KI-Themen zu widmen. Sie brauchen Data Scientists – Menschen, die sowohl die Komplexität des Tool-Sets als auch den Use Case verstehen. Denn es ist wichtig, die richtigen Daten in der richtigen Qualität und Quantität zu liefern. Wenn Sie den falschen Ansatz wählen, schaffen Sie Probleme, die keine sein müssten oder Sie finden Lösungen, die keine Lösungen für das ganzheitliche Problem sind.
Kurz: Sie brauchen auf jeden Fall Kompetenz, Personal und Investitionen. KMU brauchen aber auch den Kontakt zu den KI-Playern. Unser Ansatz ist es daher, unseren Kunden über ONCITE DPS den Kontakt zu IBM oder zu Google zu ermöglichen. Wir haben Use Cases abgebildet, wir kennen die Ansprechpartner, wir haben entsprechende Kompetenzen oder die Partner, die Kompetenzen haben. So können wir zeigen, was machbar ist und können gemeinsam die Lücke zwischen den KMU und den großen Playern schließen und sie navigieren und unterstützen.
Wie schätzen Sie die Marktaussichten in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bei KI ein?
Wir sind immer noch ein von der Industrie getriebenes Land. Durch unsere hohe Industrieaffinität und -basis, aber auch den Willen, immer weiter in Forschung zu investieren, bieten sich sehr große Chancen. Man muss natürlich auch auf die Summen schauen, die hierzulande in KI investiert werden. Große KI-Länder wie die USA und China investieren ein Vielfaches. Es kommt hinzu, dass die ganz großen KI-Unternehmen vor allem in den USA sitzen, wodurch dort auch viel Geld in das lokale Umfeld fließt.
Nichtsdestotrotz ist KI für uns definitiv eine große Chance, insbesondere im Bereich der Fertigungsindustrie. In der Automatisierung hat Deutschland hier noch eine Vorreiterrolle, die es mit hoher Anstrengung auch in Zeiten von KI verteidigen muss. Es besteht quasi eine Verpflichtung, uns zu engagieren. Wenn wir nicht auf den Zug aufspringen, werden wir abgehängt. Einen Leitsatz habe ich von der Hannover Messe mitgenommen: Das sogenannte Window of Opportunity wird sich Ende des Jahres schließen. Das sagen die großen Player.
Konkret heißt das, auch in 2025 wird es bei KI zwar neue Entwicklungen und neue Partnerschaften geben, aber auf dem großen Markt wird sich bis Ende des Jahres zeigen, wer welche Lösung mit welchem Partner angehen wird. Hier muss man schnell sein und zeigen, dass man die Digitalisierung der Fabriken und das Einbinden von KI beherrscht. Denn es gibt neben der Digitalisierung ja auch Themen wie die Energiewende.
Es fragt sich, mit welchen Lösungen können wir die Energiewende tatsächlich forcieren und unterstützen? Und wie können wir ganze Fertigungsprozesse auch nach Energie-Gesichtspunkten managen? Funktionieren kann das nur mit einer Masse an auswertbaren Daten. Die Werke sind so miteinander vernetzt, dass permanent Informationen fließen. Diese Informationen beherrschbar, auswertbar und optimierbar zu machen, wird perspektivisch ohne KI gar nicht funktionieren.
Deutsche KI-Unternehmen legen den Fokus eher auf Industrieanwendungen. Können sie damit weltweit Spitzenpositionen besetzen?
Ich habe die Hoffnung, dass wir weiterhin unsere aktuelle Spitzenposition erhalten. Aber um sicherzugehen, dass das in der Zukunft so bleiben wird, brauchen wir Innovation. Und Innovation an der Stelle heißt auch KI. Inzwischen kann ich dank ChatGPT 4.0 mit einem System so sprechen, also ob ich mich mit einem Menschen unterhalte. Das ist echte Innovation, die ich auch in die Fertigung bringen muss.
Ohne solche Innovationen werden wir die Spitzenposition nicht behalten. Allerdings sollten wir KI nicht nur in der Industrie einsetzen. Es gibt schon Branchen, die sich stark engagieren. Das müssen wir ausweiten. Bereiche wie das Gesundheitswesen, Finanzwesen und der Einzelhandel werden ihre Wettbewerbsfähigkeit nur dann erhalten, wenn sie auf moderne Systeme setzen.