Wirtschaftsumfeld | Estland | Wirtschaftsstruktur
Digitale Stärke ist auch in der Wirtschaftsstruktur sichtbar
Der Dienstleistungssektor spielt in Estland eine größere Rolle als in vielen anderen EU-Ländern, Tendenz steigend. Aber auch die lokale Industrie hat viel zu bieten.
03.01.2024
Estlands hohe Affinität für Digitalisierung und neue Technologien ist auch in der Wirtschaft sichtbar. Gemessen an der Bevölkerungszahl hat das Land weltweit die meisten Einhörner hervorgebracht. Das sind Start-ups mit einer Unternehmensbewertung von mindestens 1 Milliarde Euro. Mittlerweile hat das Land zehn davon. Zu den bekanntesten gehören Skype, Bolt und (Transfer)Wise.
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Estland hat Potenzial als Beschaffungsmarkt
Aus deutscher Sicht gibt es neben der Digitalisierung jedoch noch einen weiteren Punkt, weshalb die estnische Wirtschaft sehr spannend ist: Das baltische Land bietet für Deutschland ein großes Potenzial als Beschaffungsmarkt und kann so bei der Verkürzung von Lieferketten eine wichtige Rolle spielen. Beispielsweise verzeichnet die estnische Metallwirtschaft eine wachsende Nachfrage für Vorprodukte aus Deutschland.
Die Auftragsfertigung ist für Estlands Metallbranche das Brot- und Buttergeschäft. Die Branche wirbt mit günstigeren Arbeitskosten, kurzen Lieferwegen und einer hohen Qualität. Zwar können die estnischen Industrieunternehmen günstigere Preise aufrufen als beispielsweise die Konkurrenz in Deutschland oder Finnland, mit den chinesischen oder türkischen Kosten können die Firmen allerdings nicht konkurrieren.
Lohnkosten steigen deutlich
Ein Grund für das Potenzial als Beschaffungsmarkt für deutsche Firmen sind die estnischen Gehälter. Im Vergleich zu Deutschland oder auch dem EU-Durchschnitt sind diese weiterhin niedrig. So zahlten Arbeitgeber im Land 2022 im Schnitt 16,60 Euro für eine Arbeitsstunde. In Deutschland waren es 40 Euro und im EU-Durchschnitt 30,20 Euro.
Allerdings steigen die estnischen Arbeitskosten deutlich. Im Jahr 2022 wuchsen sie im Jahresvergleich um 9,9 Prozent (Deutschland: 6,4 Prozent und EU-Durchschnitt: 5,4 Prozent). Im baltischen Vergleich weist Estland die höchsten Arbeitskosten pro Stunde auf (Litauen 13,20 Euro; Lettland 2022: 12,40 Euro).
PISA-Spitzenreiter
Das große Potenzial des Landes liegt im guten Bildungssystem und einer hohen IT-Kompetenz der Arbeitnehmenden. So ist Estland im PISA-Ranking 2022 - wie auch in den Vorjahren - europäischer Spitzenreiter. Auch deutsche Investoren in Estland bewerten die Qualifikation der einheimischen Arbeitskräfte positiv. Das geht aus der 2023 durchgeführten Unternehmensbefragung der Deutsch-Baltischen Handelskammer (AHK Baltikum) hervor. Die Firmen vergaben auf einer Skala von 1 (sehr gut) bis 5 (mangelhaft) eine Bewertung von 2,17. Zudem äußerten sie Zufriedenheit mit der akademischen Ausbildung (Note 2,27) und dem Berufsbildungssystem (2,55).
Eine große Herausforderung ist jedoch der Fachkräftemangel im Land. Wie Arvid Häntsch, Managing Director bei CARIAD Estonia, berichtet, ist die Suche nach Mitarbeitern zwar nicht einfach, aber es lassen sich weiterhin geeignete Personen finden.
Schattenwirtschaft geht etwas zurück
Der Anteil der Schattenwirtschaft in Estland ist weiterhin hoch. Das zeigt der von der Stockholm School of Economics in Riga veröffentlichte "Shadow Economy Index for the Baltic Countries". Mit einem BIP-Anteil von 18 Prozent ist der Anteil der estnischen Schattenwirtschaft 2022 geringer als in den beiden anderen baltischen Staaten. Im Vergleich zum Vorjahr vermelden die Experten zudem einen Rückgang um einen Prozentpunkt. Der Großteil der Schattenwirtschaft in Estland ist auf schwarz gezahlte Zusatzlöhne, die Mitarbeiter neben ihrem Grundgehalt bekommen (sogenannte "envelope wages"), zurückzuführen.
Dienstleistungen spielen eine große Rolle
Estlands breites Know-how im Bereich Digitalisierung spiegelt sich mittlerweile auch in der heimischen Wirtschaftsstruktur wider. So steuerte allein der Bereich Information und Kommunikation 2022 nach Zahlen von Eurostat 7,1 Prozent zur estnischen Bruttowertschöpfung bei. Zehn Jahre zuvor waren es noch knapp 5 Prozent. Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt kommt der Sektor Information und Kommunikation auf 5,4 Prozent. Im verarbeitenden Gewerbe kommt der Holz- und Metallbranche die größte Bedeutung in der estnischen Wirtschaft zu.
In Zukunft dürfte die Bedeutung des estnischen Energiesektors an Bedeutung gewinnen. Nach Zahlen von Eurostat hat Estland die niedrigste Energieabhängigkeit von anderen Staaten innerhalb der EU. Im Jahr 2021 deckte das baltische Land lediglich 1,4 Prozent des Energiebedarfs durch Einfuhren ab. Im EU-Durchschnitt waren es 56 und in Deutschland 63 Prozent. Grund für die geringe Energieabhängigkeit Estlands ist die heimische Ölschieferindustrie. Mehr als die Hälfte des im Land produzierten Stroms stammt aus Ölschiefer. Estland erhöhte die Stromproduktion aus Ölschiefer, um Gas- und Stromimporte aus Russland zu kompensieren.
Aufgrund der schlechten CO₂-Bilanz von Ölschiefer ist das allerdings keine zufriedenstellende – und aufgrund des CO₂-Zertifikatehandels auch keine wettbewerbsfähige – Lösung. Estland will die Stromproduktion aus Ölschiefer deshalb bis 2035 einstellen. Dafür müssen neue Erzeugungskapazitäten aufgebaut werden. Das baltische Land muss in neue und vor allem umweltfreundlichere Maßnahmen zur Energieproduktion investieren. Vor allem Offshore-Windkraft könnte dabei eine große Rolle spielen.
Bedeutung der Wirtschaftszweige in Estland (Anteile in Prozent)
Sektoren | Anteil an der Bruttowertschöpfung 2022 | Anteil an den Arbeitnehmern 2022 |
---|---|---|
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei | 2,8 | 1,9 |
Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden | 0,6 | 0,5 |
Verarbeitendes Gewerbe | 14,9 | 18,9 |
Herstellung von Holzwaren (ohne Möbel) | 3,2 | 2,9 |
Herstellung von Metallerzeugnissen | 1,9 | 2,6 |
Energieversorgung | 4,3 | 0,9 |
Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung und Beseitigung von Umweltverschmutzungen | 0,7 | 0,7 |
Baugewerbe | 6,7 | 6,8 |
Information und Kommunikation | 7,1 | 5,1 |
Erbringung von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen | 4,6 | 2,7 |
In Tallinn spielt die Musik
Estlands Hauptstadtregion dominiert das heimische Wirtschaftsbild. Sie erwirtschaftet mehr als 60 Prozent des lokalen Bruttoinlandsprodukts.
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