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Rosatom setzt auf Mini-Reaktoren und schnelle Brüter
Die Kernenergie bleibt ein Pfeiler der russischen Stromerzeugung. Neue Reaktortypen sollen im In- und Ausland gebaut werden. Dafür müssen die Ausrüster ihre Kapazitäten erweitern.
22.07.2021
Von Gerit Schulze | Moskau
Russlands Staatskonzern Rosatom plant massive Investitionen in Technologien zur Gewinnung von Kernenergie. Bis 2030 sind Ausgaben von 506 Milliarden Rubel (5,8 Milliarden Euro, Wechselkurs der EZB am 19. Juli 2021: 1 Euro = 87,93 Rubel) dafür vorgesehen, berichtete die Zeitung Kommersant.
Große Pläne mit kleinen Reaktoren
Ein Schwerpunkt liegt auf kleinen Atomkraftwerken (AKW) mit geringer Leistung. Dazu gehören auch schwimmende AKW, von denen ein erster Prototyp 2020 im Hafen Pewek auf Tschukotka in Betrieb ging. Vier weitere schwimmende Meiler mit einer Leistung von jeweils 55 Megawatt (MW) sollen ab 2028 die Energieversorgung des Erzanreicherungswerks Baimski GOK auf Tschukotka sicherstellen.
Der gleiche Reaktortyp RITM-200 kommt ab 2030 auch an Land bei der Goldlagerstätte Kjutschusskoje in Jakutien zum Einsatz. Für entfernte Regionen ohne Anschluss an zentrale Versorgungsleitungen sind die Reaktortypen Schelf-M mit bis zu 10 MW Leistung zur Stromproduktion und Elena-AM (kombinierte Wärme- und Stromerzeugung) geplant.
Solche Mini-Meiler haben weltweit Hochjunktur. Etwa 70 Anlagen soll es bereits geben. Rosatom will bis 2030 mindestens sechs neue Aufträge im Ausland gewinnen und mit einem Anteil von 20 Prozent zum Weltmarktführer bei "Small Modular Reactors" werden.
Experten der Investmentbank VTB Capital räumen aber ein, dass die Baukosten des Reaktortyps RITM-200 bis zu fünfmal so hoch sind wie bei erneuerbaren Energiequellen. Für 1 Kilowatt Leistung werden Investitionen von 4.000 US-Dollar (US$) benötigt.
Schnelle Brüter der neuen Generation im Bau
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Brutreaktoren. In Sewersk im Gebiet Tomsk startete Rosatom im Juni 2021 offiziell den Bau eines bleigekühlten schnellen Brüters vom Typ Brest-300 (Nettoleistung: 300 MW). Der Reaktor soll der internationalen Kategorie Generation IV entsprechen und damit besonders hohe Anforderungen an Sicherheit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit erfüllen.
Der schnelle Brüter kann mehr Kernbrennstoff herstellen als er selbst verbraucht. Rosatom-Direktor Alexej Lichatschew sagte beim Baustart, dass Russland mit diesem Reaktor seine Technologieführerschaft in der Kernkraft unterstreiche. Die Inbetriebnahme plant Rosatom im Jahr 2027; Generalunternehmer für den Bau ist der Konzern Titan-2.
Für einen weiteren Brutreaktortypen (BN-1200M) soll die technische Dokumentation bis 2030 abgeschlossen sein. Der natriumgekühlte Reaktor wird am AKW Belojarsk (Swerdlowsker Gebiet) gebaut. Dort sind bereits zwei schnelle Brüter vom Typ BN-600 und BN-800 im Einsatz.
Joint Venture in Deutschland für Kernbrennstoff?
Als dritten Schwerpunkt seiner künftigen Entwicklung baut Rosatom über die Tochterfirma TVEL seine Rolle als weltweiter Lieferant von Kernbrennstoff aus, auch für westliche Kraftwerkstypen. Angestrebt wird eine Steigerung des Marktanteils von aktuell 17 auf 24 Prozent.
Hierzu drängt TVEL auch nach Deutschland. Im niedersächsischen Lingen will sich das Unternehmen beim Brennelementewerk Advanced Nuclear Fuels beteiligen, das vom französischen Staatskonzern Framatome betrieben wird. Für den Einstieg der Rosatom-Tochter läuft aber noch ein Investitionsprüfverfahren.
TVEL gründete in München bereits ein Joint Venture mit dem Entwickler von Titanlegierungen Hermith. Gemeinsam planen beide Unternehmen die Massenproduktion von Drähten für die additive Fertigung in der Flugzeugindustrie. TVEL will damit sein Produktportfolio außerhalb des Nuklearsektors erweitern.
Geschäfte im Ausland laufen prächtig
Auslandsmärkte bilden den Schwerpunkt der russischen Atomenergie-Entwicklung. Während im Inland zurzeit nur drei Reaktoren im Bau sind, umfasst das Auslandsportfolio 35 Blöcke. Große Kraftwerke entstehen in der Türkei, in Belarus, in China, Indien und Bangladesch, aber auch in den EU-Ländern Finnland und Ungarn.
Im Inland ist der Anteil der Atomenergie am Strommix in den vergangenen zehn Jahren gestiegen. Er liegt bei knapp 20 Prozent und soll in den nächsten zwei Jahrzehnten auf diesem Niveau verharren. Der europäische Teil Russlands bezieht laut Rosatom etwa 30 Prozent seines Stromverbrauchs aus Kernkraft.
Verteilung der russischen Stromproduktion (in Milliarden Kilowattstunden)
2010 | 2015 | 2020 | 2030 *) | 2040 *) | |
---|---|---|---|---|---|
Insgesamt | 1.037 | 1.063 | 1.085 | 1.241 | 1.354 |
Wärmekraftwerke auf Basis fossiler Brennstoffe | 699 | 697 | 652 | 800 | 841 |
Wasserkraft | 168 | 170 | 214 | 200 | 210 |
Atomkraft | 170 | 195 | 216 | 224 | 270 |
Sonstige | 0 | 1 | 3 | 16 | 31 |
Derzeit sind in Russland elf Atomkraftwerke mit 34 Blöcken in Betrieb. Sie haben eine Gesamtleistung von 28 Gigawatt. Hinzu kommt das schwimmende AKW in Pewek. Betreiber Rosenergoatom ist nach der französischen EDF der weltweit zweitgrößte Atomenergieerzeuger.
Übersicht der russischen Kernkraftwerke im laufenden Betrieb
Kraftwerksname / Ort / Region | Bauart *) | Anzahl der Blöcke / Gesamtleistung in MW | Inbetriebnahme |
---|---|---|---|
Balakowskaja AES / Balakowo / Saratow | WWER | 4 / 4.000 | 1985 bis 1993 |
Kalininskaja AES / Udomlja / Twer | WWER | 4 / 4.000 | 1984 bis 2011 |
Kurskaja AES / Kurtschatow / Kursk | RBMK | 4 / 4.000 | 1976 bis 1985 |
Rostowskaja AES / Wolgodonsk / Rostow am Don | WWER | 4 / 4.000 | 2001 bis 2018 |
Smolenskaja AES / Desnogorsk / Smolensk | RBMK | 3 / 3.000 | 1982 bis 1990 |
Nowoworoneschskaja AES-2 / Nowoworonesch / Woronesch | WWER | 2 / 2.400 | 2017 bis 2019 |
Leningradskaja AES / Sosnowy Bor / Leningrader Gebiet | RBMK | 2 / 2.000 | 1979 bis 1981 |
Kolskaja AES / Poljarnye Sori / Murmansk | WWER | 4 / 1.760 | 1973 bis 1984 |
Nowoworoneschskaja AES / Nowoworonesch / Woronesch | WWER | 2 / 1.440 | 1972 bis 1980 |
Belojarskaja AES / Saretschny / Swerdlowsker Gebiet | BN | 2 / 1.400 | 1980 bis 2016 |
Akademik Lomonossow (schwimmend) / Pewek / Tschukotka | KLT | 2 / 70 | 2020 |
Bilibinskaja AES / Bilibino / Tschukotka | EGP | 3 / 36 | 1974 bis 1976 |
Rosatom vergibt jedes Jahr Milliardenaufträge
Auch wenn Deutschland aus der Atomenergie aussteigt, haben Komponentenhersteller gute Absatzchancen in Russland. Rosatom vergibt über das Portal Zakupki.rosatom.ru jedes Jahr Aufträge für mehr als 11 Milliarden Euro. Die Webseite zeigt an, welche Firmen die Zuschläge bekommen haben.
Wichtige Zulieferer für Rosatom sind die Tochterunternehmen Atomenergomasch (Rohrleitungsarmaturen, Titanstäbe, Ausrüstungen zur Strahlungskontrolle), ASE EC (Bau- und Projektierungsarbeiten) und REA (Reparatur- und Anschlussarbeiten, Lieferung von Transformatoren, Reaktorkomponenten, Dampfgeneratoren).
Atomenergomasch plant bis 2023 Investitionen von 110 Millionen Euro in die Produktionsanlagen seiner Tochterfirma AEM-Technologii. Insgesamt will das Unternehmen 388 neue Maschinen beschaffen, darunter Karusselldrehmaschinen, horizontale Bohrmaschinen, Tiefbohrmaschinen sowie Schweiß- und Kugelstrahlanlagen.
Geschäftschancen beim Rückbau alter Meiler
Geschäftsmöglichkeiten ergeben sich auch beim Rückbau abgeschalteter Reaktorblöcke und bei der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Hier sammelt Deutschland durch den Atomausstieg viele Erfahrungen. In Russland haben sich laut einem Bericht der Heinrich-Böll-Stiftung mehr als 500 Millionen Tonnen radioaktive Abfälle angehäuft. Hinzu kommen 25.000 Tonnen abgebrannter Kernbrennstoffe aus AKW, die für eine weitere Verwendung aufbereitet werden sollen. Die Kapazitäten hierzu sind dem Bericht zufolge bislang gering.