Die Corona-Fallzahlen in der Türkei liegen weit höher als bisher angenommen. Von den Folgen wird die türkische Wirtschaft empfindlich getroffen. (Stand: 5. November 2020)
Seit Herbstbeginn nehmen in der Türkei die Neuinfektionen mit dem Coronavirus wieder stark zu. Offenbar liegen die Corona-Fallzahlen im Land zudem weit höher als bisher angenommen. Nachdem immer mehr Zweifel an den offiziellen Corona-Statistiken der Türkei laut geworden waren, forderte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die türkische Regierung im Oktober dazu auf, die korrekten Zahlen bereitzustellen. Der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca hatte zuvor eingeräumt, dass ab dem 27. Juli nicht mehr die Gesamtzahl der Infektionen veröffentlicht wurde, sondern nur noch die derjenigen, die tatsächlich Krankheitssymptome entwickelten und behandelt werden mussten. Dadurch wurden in den vergangenen Monaten etwa 350.000 Infektionen verschwiegen, schätzt die türkische Ärztekammer.
Aufgrund der steigenden Fallzahlen passt das Auswärtige Amt seine Reisewarnung an: Ab 9. November gilt diese wieder für die ganze Türkei. Die bisherige Ausnahme für die Küstenprovinzen Antalya, Izmir, Aydin und Muğla wird aufgehoben.
Reiseverkehr normalisiert
Anfang Juni hatte die Türkei die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus gelockert. Die Reisebeschränkungen zwischen den Provinzen sind aufgehoben und der Flugverkehr ist wieder aufgenommen. Das Einreiseverbot für deutsche Staatsangehörige hat die Türkei am 11. Juni aufgehoben. Es gibt wieder regelmäßige Flüge zwischen der Türkei und Deutschland. Auch die Land- und Seegrenzen der Türkei sind wieder offen, mit Ausnahme der Landesgrenze zu Iran. Bei der Einreise in die Türkei werden Gesundheitsuntersuchungen durchgeführt.
Alltagsleben mit strengen Hygieneauflagen
Ausgangsbeschränkungen wurden weitgehend aufgehoben. Kindergärten und -tagesstätten haben unter strikten Auflagen geöffnet. Schulen und Universitäten sollen nach der Sommerpause im September folgen. Restaurants, Cafés, Geschäfte und Einkaufszentren haben ebenfalls unter strengen Auflagen wieder geöffnet.
Das Geschäftsleben ist zurückgekehrt zu einer "neuen Normalität" mit Abstandsregeln, Maskenpflicht und strikten Hygienevorschriften. Unternehmen haben ihre Angestellten aus dem Homeoffice zurück ins Büro geholt. Um die Auflagen der Regierung einzuhalten, oft in rotierenden Schichten. Auch das Personal der Behörden ist an die Arbeit zurückgekehrt. Meetings und Veranstaltungen werden in der Regel weiterhin online durchgeführt.
Erholung ab 2021 erwartet
Der Türkei droht in diesem Jahr durch Corona eine Rezession. Die Wirtschaft ist wegen ihrer starken Einbindung in internationale Lieferketten und der Abhängigkeit vom Tourismus den Folgen der Pandemie in besonderem Maße ausgesetzt. Ende des Jahres oder Anfang 2021 könnte es wieder aufwärts gehen. Die Risiken sind allerdings recht hoch, insbesondere im Fall einer zweiten Infektionswelle.
Für das laufende Jahr 2020 prognostizieren der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission einen Rückgang um rund 5 Prozent; für 2021 rechnen sie mit einem Plus von 5 beziehungsweise 4 Prozent.
Schwacher Binnenmarkt
Inlandsnachfrage und Investitionen werden in diesem Jahr voraussichtlich zurückgehen. Anders als bei Konjunkturkrisen in der Vergangenheit scheint es in der aktuellen Lage unwahrscheinlich, dass die Türkei die schwache Nachfrage am Binnenmarkt über Exporte ausgleichen kann. Denn wichtigen Auslandsmärkten wie der EU, Großbritannien und den USA stehen ebenfalls Konjunktureinbrüche bevor. Außerdem begrenzt die expansive Geld- und Fiskalpolitik der letzten Jahre den Handlungsspielraum der Türkei für weitere Maßnahmen zum Ankurbeln der Wirtschaft.
Wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei (Veränderung in Prozent, im Vergleich zum Vorjahr)
| 2016 | 2017 | 2018 | 2019 | 2020* | 2021* |
---|
Bruttoinlandsprodukt | 3.2 | 7.5 | 2.8 | 0.9 | -5.4 | 4.4 |
Privater Verbrauch | 3.6 | 6.2 | 0.1 | 0.6 | -2.1 | 1.9 |
Bruttoanlageinvestitionen | 2.2 | 8.2 | -0.6 | -12.4 | -14.3 | -3.3 |
*) PrognoseQuelle: TÜIK (Statistikamt der Türkei), Europäische Kommission (Mai 2020)
Das Investitionsklima ist eingetrübt. Die Unternehmen investierten bereits vor der Coronakrise eher zurückhaltend. Die Lage hat sich durch die Coronapandemie verschlechtert. Seit März 2020 berichten die meisten Unternehmen von Nachfrageeinbrüchen im In- und Auslandsgeschäft. Viele haben ihre Kapazitäten runtergefahren. Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung ist groß. Die Türkei hofft, von einer möglichen Neuausrichtung der Lieferketten europäischer Firmen infolge der Coronakrise profitieren zu können, entweder über Exporte oder ausländische Direktinvestitionen.
Die hohe Inflation, die gesunkene reale Kaufkraft der Verbraucher und Unwägbarkeiten infolge der Coronakrise bremsen die Kauffreude. Viele Haushalte verzeichnen Einkommenseinbußen etwa durch Kurzarbeit oder müssen um ihre Arbeitsplätze fürchten.
Türkische Lira unter Druck
Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren haben Kapital abgezogen, die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken, die Inflation ist hoch und die türkische Lira (TL) hat stark an Wert verloren. Im Januar 2020 betrug der durchschnittliche Wechselkurs zum US-Dollar noch 5,92 TL, im April waren es schon 6,82 TL. Das Land erlitt im Jahr 2018 bereits eine starke Währungsabwertung. Von der folgenden Rezession hatte sich die Türkei noch nicht vollständig erholt, als die Coronakrise begann.
Eine schwache Lira ist auch im Hinblick auf die geringen Währungsreserven und die hohe Importabhängigkeit negativ zu bewerten. Zudem erhöhen sich Zins- und Rückzahlungen bestehender Schulden in ausländischer Währung. In der Türkei betrifft dies 52 Prozent der Bruttoverschuldung.
Gerade Unternehmen, die in der Währungskrise im Jahr 2018 Schulden angehäuft haben, laufen jetzt Gefahr säumig zu werden. Der Kreditversicherer Coface rechnet für 2020 mit einem Anstieg der Unternehmensinsolvenzen in der Türkei um 50 Prozent.
Allerdings macht die schwache Lira die türkischen Exporte und die Direktinvestitionen in der Türkei günstiger und damit attraktiver. In der aktuellen Lage dürfte die Türkei davon nur beschränkt profitieren können. Positiv wirkt sich zudem der Ölpreiseinbruch aus, da die Türkei in hohem Maße auf Importe von Energieträgern angewiesen ist.
Importe sinken
Die türkischen Einfuhren waren im April 2020 um ein Viertel geringer als im selben Monat des Vorjahres. Die Rückgänge bei den Lieferungen aus Deutschland fielen mit -1 Prozent noch relativ gering aus. Deutschland war nach der VR China das zweitgrößte Lieferland. Das volle Ausmaß der Folgen der Coronakrise für die Im- und Exporte wird sich erst mit zeitlicher Verzögerung zeigen.
Außenhandel der Türkei (Veränderung in Prozent gegenüber der Vorjahresperiode)
| 2017 | 2018 | 2019 | | Januar 2020 | Februar 2020 | März 2020 | April 2020 |
---|
Import | 18,1 | -3,2 | -9,0 | | 18,8 | 9,8 | 3,1 | -25,0 |
Export | 10,2 | 7,7 | 2,1 | | 5,9 | 2,0 | -18,1 | -41,4 |
Handelsbilanzsaldo | 40,2 | -27,3 | -9,0 | | 97,0 | 74,7 | 184,1 | 67,0 |
Quelle: TÜIK (Mai 2020)
Türkei offen für Tourismus
Die türkische Tourismusbranche, die sechstgrößte der Welt, erleidet durch die Pandemie erhebliche Verluste. Die Türkei hofft, im Sommer wieder internationale Gäste begrüßen zu können. Strände, Nationalparks, Museen und historische Städten sind unter Auflagen wieder geöffnet. Hotels und Ferienanlagen sind ebenfalls unter strikten Auflagen wieder offen für Besucher. Fünf Unternehmen, darunter TÜV Süd, sind mit der Zertifizierung von Anlagen als "coronafrei" beauftragt. Der Inlandstourismus ist bereits wieder angelaufen. Mit Regierungen anderer Staaten, darunter Deutschland, laufen Verhandlungen. Ob die Sommersaison zu retten ist, hängt vom weiteren Verlauf der Pandemie ab.
Von Katrin Pasvantis
|
Istanbul