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Branchen | Argentinien | Bauwirtschaft

Bausektor im Strudel der argentinischen Wirtschaftskrise

Argentiniens Bauwirtschaft leidet unter Inflation, Kostenexplosion und Lieferengpässen. Dabei dürfte die schlimmste Zeit erst noch kommen.

Von Stefanie Schmitt | Santiago de Chile

Die Bauwirtschaft in Argentinien befindet sich im Abschwung. Die jüngsten Zahlen des nationalen Statistikamts INDEC zeigen, dass die Bauaktivität im Juni 2023 um 1,5 Prozent gegenüber dem Vormonat Mai gesunken ist. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ergibt sich ein minus von 2,8 Prozent. Abgesehen von einer kurzen Erholung im Frühjahr hält der Abschwung im Baugewerbe seit 2022 an.

"Industrie und Bau erwarten, dass es weiter schlecht bleibt und der schlimmste Moment des Jahres noch bevorsteht", sagte Gustavo Vallejo, Leiter der Statistikabteilung des Instituts für Statistik und Registrierung der Bauindustrie (IERIC), im Juli 2023 gegenüber der argentinischen Tageszeitung La Nación. Mit dieser Einschätzung steht der Ökonom nicht allein. Laut der jüngsten Umfrage von INDEC vom Juni 2023 hält nicht einmal jedes fünfte Branchenunternehmen eine Erholung der Bauaktivitäten kurzfristig für möglich.

Wie schätzen argentinische Bauunternehmer die Entwicklung des Bausektors bis September 2023 ein?

Wachsend

Sinkend

Unverändert

Unternehmen mit Kunden überwiegend im Privatsektor

15,2

21,7

63,1

Unternehmen mit Kunden überwiegend im öffentlichen Sektor

17,0

28,0

55,0

Quelle: Nationales Institut für Statistik und Volkszählung (INDEC) 2023

Baugenehmigungen rückläufig

Die große Mehrheit glaubt dagegen, dass die Bauaktivitäten weiter abnehmen oder bestenfalls stagnieren werden. Tatsache ist, so der Ökonom Camilo Tiscornia von C&T Asesores Económicos gegenüber La Nación im August 2023, dass die Baugenehmigungen rückläufig sind. Deshalb ist in Zukunft mit weniger Aktivität zu rechnen. Das Portal Reporte Inmobiliario geht für 2023 davon aus, dass laufende Arbeiten zwar fortgesetzt werden, Neuaufträge aber erst einmal ausbleiben, bis das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen feststeht.

Präsidentschaftswahlen in Argentinien

Im Herbst 2023 finden in Argentinien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Bei den Vorwahlen am 13. August 2023 vereinte der radikal-libertäre Rechtspolitiker Javier Milei von der Partei La Libertad Avanza mit 30 Prozent die meisten Stimmen auf sich. Auf den weiteren Plätzen folgte die Kandidatin Patricia Bullrich von der Mitte-Rechts-Allianz Juntos por el Cambio (28,3 Prozent) und Sergio Massa von dem regierenden peronistischen Bündnis Unión por la Patria (27,3 Prozent).


Der entscheidende Wahlgang erfolgt am 22. Oktober 2023. Erreicht kein Kandidat im ersten Durchgang das notwendige Quorum, erfolgt eine Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzieren.

Schockfaktor Präsidentschaftswahlen

Dabei rechnete zum Zeitpunkt dieser Prognosen noch niemand mit dem guten Abschneiden des radikal-libertären Rechtspolitikers Javier Milei bei den Präsidentschaftsvorwahlen am 13. August 2023. Milei will unter anderem die Zentralbank abschaffen und den US-Dollar als Landeswährung einführen. Zwar sind Vorwahlen noch keine Endwahlen. Doch für das Establishment in Buenos Aires war Mileis Sieg ein Schock.

Die Unternehmen mit hauptsächlich staatlichen Aufträgen, die in den kommenden Monaten eine Erholung erwarteten, erhofften sich noch vor den Wahlen die Umsetzung neuer beziehungsweise die Wiederaufnahme gestoppter öffentlicher Bauvorhaben. Die optimistischen Unternehmen, die vorwiegend privat tätig sind, rechneten mit einem allgemeinen Aufschwung durch neue öffentliche Projekte.

Dieser dürfte jedoch ziemlich sicher ausbleiben. Denn die öffentlichen Kassen sind leer. Konnte die Zentralbank in der ersten Jahreshälfte die Nachfrage noch durch den Verkauf von Dollarreserven stützen, so bleibt ihr jetzt nur noch, "negative Nettoreserven" zu verwalten und Altschulden über neue Kredite zu decken. Der Internationale Währungsfonds rechnet für Argentinien 2023 allenfalls mit einem Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent.

Je höher die Baukosten, umso weniger rechnen sich Bauaufträge

Den Baufirmen weht schon heute ein heftiger Wind entgegen. Die Inflation von aktuell rund 115 Prozent treibt die Kosten für Arbeitskräfte und Material nach oben. Erschwert wird die Lage durch zahlreiche Importbeschränkungen, den schwierigen Zugang zu Devisen und Fremdkapital sowie verspätete Zahlungseingänge. Auch hält die Abwertung des argentinischen Peso gegenüber dem US-Dollar nicht Schritt mit der Kosteninflation in Pesos für Baumaterial. Das bedeutet einen deutlichen Kostenanstieg der Baukosten in US-Dollar, schreibt Reporte Inmobiliario. Immerhin sinken die Quadratmeter-Verkaufspreise in US-Dollar, was etwa die Universität Centro de Estudios Macroeconómicos de Argentina (UCEMA) für Buenos Aires beobachtet.

Laut der Umfrage des Statistikamtes INDEC sehen die befragen Unternehmer in folgenden Bereichen die größte Wahrscheinlichkeit, dass Bauprojekte in den kommenden Monaten wie geplant fortgesetzt werden:

  • Firmen mit Kunden überwiegend aus dem öffentlichen Sektor: Straßenbau, Wohnungsbau, Wasser, Abwasser
  • Firmen mit Kunden überwiegend aus dem privaten Sektor: Industrieimmobilien

Geringere Bauaktivitäten schlagen direkt auf die Baustoffbranche durch

Weniger Bauaktivitäten bedeuten weniger Verbrauch von Baustoffen: Von 13 untersuchten Produkten entwickelten sich laut INDEC acht im Juni 2023 rückläufig. Unter denen, die noch eine steigende Nachfrage verbuchten, war unter anderem Asphalt, was sich wiederum mit der Unternehmenseinschätzung deckt, dass auch künftig im Straßenbau noch etwas gehe.


Absatzentwicklung ausgewählter wichtiger Baustoffe im Juni 2023 (Veränderung im Vergleich zum Vorjahresmonat in Prozent)

Baustoff

Veränderung

Gips

-16,9

Keramikfliesen und -kacheln

-13,5

Rundeisen und Baustähle

-10,9

Sanitärkeramik

-4,0

Gipsplatten

-3,2

Portlandzement

-2,1

Bauanstriche und -farben

1,9

Fertigbeton

6,0

Sonstige (wie Armaturen, nahtlose Stahlrohre *), Flachglas)

8,7

Asphalt

17,3

* nahtlose Stahlrohre werden insbesondere für die Energieinfrastruktur (Pipelines) gebraucht, wobei der letzte Abschnitt der unter Hochdruck errichteten, 573 Kilometer langen Néstor-Kirchner-Gaspipeline im Juli 2023 eingeweiht wurde.Quelle: Universidad Nacional de Cuyo 2023


Der Construya-Index des Firmenverbands Grupo Construya vom Juli 2023 lag saisonbereinigt mit minus 1,9 Prozent ebenfalls niedriger als im Juli 2022. Der Index misst die Entwicklung der an den privaten Sektor verkauften Mengen zahlreicher Bauprodukte wie Portlandzement, Kalk, Klebstoffe, Imprägnierfarben, Sanitäranlagen oder Heizkesseln sowie Heizungssystemen.

Gemäß Grupo Construya rührt der Verkaufsrückgang aus der allgemeinen Unsicherheit vor den Wahlen. Dies sei nicht außergewöhnlich. Hinzu kommen jedoch die makroökonomische Instabilität sowie die aktuellen Finanz- und Devisenbeschränkungen und deren negative Auswirkungen auf die Geschäftsentwicklung.

Dabei war es gerade der Bausektor gewesen, der in den letzten Jahren von dieser Unsicherheit und der galoppierenden Inflation profitiert hatte: Die Menschen flüchteten in Sachwerte, und der Bau- und Immobiliensektor etablierte sich als Hort der Stabilität. Aber mittlerweile hat die Krise offensichtlich auch den Bausektor erreicht: Wirtschaft und Private legen ihr Geld, falls möglich, lieber im Ausland an - oder haben schlicht keines mehr. Fremdfinanzierungen sind aufgrund der hohen Risikozuschläge immens teuer.


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