Wirtschaftsumfeld | Land | Wirtschaftsstruktur
Bedeutung von Erdöl in Venezuelas Wirtschaftsstruktur nimmt zu
Die Lockerung der US-Sanktionen und Ölreichtum machen Venezuela interessant für deutsche Firmen. Das Potenzial des Landes ist groß - ebenso wie die bestehenden Herausforderungen.
21.12.2023
Von Janosch Siepen | Bogotá
Venezuela war lange Zeit eine verhältnismäßig reiche Volkswirtschaft in Südamerika und Standort zahlreicher multinationaler und deutscher Unternehmen. Im Jahr 2013 verfügte das Land noch über das vierthöchste Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in der Region. Allerdings schrumpfte die venezolanische Wirtschaft zwischen 2014 und 2020 um fast 80 Prozent, unter anderem aufgrund von Misswirtschaft, Verstaatlichungen, sinkenden Ölpreisen, Hyperinflation und US-Sanktionen. Die wirtschaftliche Aktivität ist massiv zurückgegangen: Viele Geschäfte sind geschlossen, Gebäude stehen leer und das Containervolumen in den Häfen ist stark reduziert.
Doch die allmähliche wirtschaftspolitische Öffnung und der steigende Bedarf an venezolanischem Öl auf dem Weltmarkt haben wieder zu positiven Wachstumszahlen geführt. Halten diese Trends an, könnten sich mittelfristig neue Geschäftschancen eröffnen. Verschiedene internationale Großkonzerne wie Chevron, Eni, Repsol, Maurel & Prom, Mondelez, Mitsubishi und Maha Energy sind bereits wieder in Venezuela aktiv oder haben entsprechende Pläne angekündigt.
Venezuela profitiert von geopolitischen Veränderungen
Venezuela verfügt über die größten Ölreserven der Welt (18 Prozent der globalen Vorkommen) und die zweitgrößten Erdgasreserven in der westlichen Hemisphäre. In den vergangenen Jahren durchlebte der Sektor aber einen drastischen Niedergang. Nun könnte sich das Blatt wenden. Angesichts des Kriegs in der Ukraine, Sanktionen gegen Russland und der unsicheren Lage in Nahost sind traditionelle Bezugsmärkte fossiler Energie für den Westen unzugänglich oder gefährdet. Damit steigt in den USA und Europa das Interesse an Venezuelas Öl- und Gasvorkommen, und es bestehen Chancen für eine Reaktivierung der Branche. Auch neue Geschäftsfelder wie Flüssiggasexporte könnten hinzukommen. Der spanische Ölgigant Repsol verfolgt bereits entsprechende Pläne. Die EU verhandelt mit Venezuela über ein 1,5 Milliarden US-Dollar (US$) schweres Projekt, um Methanemissionen aufzufangen und als Flüssiggas in die EU zu exportieren. Das Projekt soll aus Mitteln der Global Gateway-Initiative finanziert werden.
Großes Potenzial für industrielle Reaktivierung
Venezuelas industrielles Potenzial ist groß. Das Land verfügt über große Raffinerien, und die installierte Stromerzeugungskapazität ist doppelt so hoch wie im Nachbarland Kolumbien, so die Lateinamerikanische Energieorganisation (OLADE). Doch nach Jahren der Rezession liegt ein Großteil der industriellen Infrastruktur Venezuelas brach. Weniger als ein Drittel der Kapazität ist ausgelastet. Eine Schienenstrecke zwischen Caracas und Valencia endet im Nirgendwo und Landeskenner berichten von Fabriken, die nie in Betrieb genommen wurden. Der Bedarf, die Industrie wieder in Gang zu bringen, ist groß. Die Wiederinbetriebnahme von Maschinen und Anlagen erfordert ausländische Technik und Wartungsdienstleistungen in allen Wirtschaftsbereichen.
Laut dem spanischen Beratungsunternehmen LLYC bieten verschiedene Sektoren in Venezuela Absatzchancen mit überschaubarem Risiko. Dazu gehören die Lieferung und Produktion von Nahrungsmitteln und Getränken, landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und Düngemitteln, Fahrzeugteilen, Pharmazeutika, Kunststoff sowie der Tourismus. In diesen Bereichen lasse sich ein Vertrieb relativ schnell aufbauen, die Importzölle seien vergleichsweise niedrig und es gebe ungenutzte installierte Kapazität. Zudem seien diese Sektoren in geringem Maße von Sanktionen betroffen und sanktionierte Firmen oder Einrichtungen seien kaum vorhanden.
Deutsche Unternehmen sehen Chancen - und große Herausforderungen
In vielen Branchen kommt deutsche und nordamerikanische Technologie zum Einsatz. Industrieanlagen wie die Großbrauerei des Lebensmittelkonzerns Polar verwenden Maschinen von Krones aus Bayern und Getriebemotoren des baden-württembergischen Antriebsherstellers SEW-Eurodrive.
Das Geschäftsumfeld ist aus deutscher Sicht noch sehr komplex. So berichtet ein Unternehmensvertreter, dass es häufig an Produktregulierungen fehle, so dass jedes Produkt in jeder Qualität auf dem venezolanischen Markt vertrieben werden könne. Dadurch müssten Firmen Produkte günstig anbieten, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Potenzial bestünde dennoch. GTAI sprach mit deutschen Unternehmen, die in Venezuela aktiv sind:
Natalia Diaz, Compliance-Beauftrage beim Softwarekonzern SAP: "Ich empfehle für Geschäfte in Venezuela gute lokale Berater und Anwaltskanzleien. Zudem nutzen wir nur Vertriebspartner außerhalb Venezuelas und führen strikte Exportkontrollen durch."
Edgard Mulford, Vertriebsingenieur beim Getriebehersteller Voith Turbo: "Inzwischen sind wir offener, Geschäfte in Venezuela wieder aufzunehmen. Ich glaube aber, dass Unternehmen ein sehr solides Geschäftsmodell entwickeln sollten, anstatt nur auf das Potenzial des Landes zu schauen."
Ein Geschäftsführer eines deutschen Unternehmens in Venezuela: "Unternehmen sollten schon jetzt Geschäftsmöglichkeiten in Venezuela erörtern und nicht auf bessere Bedingungen warten. Deutsche Firmen haben in Venezuela traditionell einen guten Ruf. Die Wirtschaftskrise hat viele Marktnischen hinterlassen, die Unternehmen jetzt nutzen können." |
Venezuelas Wirtschaft beruht auf Öl und Gas
Seit 2019 veröffentlicht Venezuela keine offiziellen Wirtschaftsdaten mehr. Daher ist es schwierig, verlässliche Aussagen über die Entwicklung der Wirtschaft und einzelner Branchen zu treffen. Laut Schätzungen der Deutsch-Venezolanischen Industrie- und Handelskammer (AHK Venezuela) trägt die Erdölindustrie 30 Prozent zum BIP bei, das verarbeitende Gewerbe 16 Prozent und die Landwirtschaft 12 Prozent. Der Öl- und Gassektor ist historisch der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes und Hauptdevisenbringer. Allerdings ist die Produktion von rund 2,5 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 2013 auf knapp 800.000 Barrel pro Tag im Oktober 2023 gesunken.
Wirtschaft gliedert sich in regionale Hubs
Die wichtigsten Industrieregionen sind die Region um die Hauptstadt Caracas, der angrenzende Bundesstaat Miranda (hier vor allem Valles del Tuy) und Carabobo mit dem Industriehub Valencia. Der Bundesstaat Zulia mit der zweitgrößten Metropole Venezuelas, Maracaibo, ist das Zentrum der Ölindustrie im Westen des Landes und beherbergt einen wichtigen Teil der Garnelenproduktion. Die Stadt Barquisimeto (Bundesstaat Lara) ist das Zentrum der Agroindustrie. Wichtige Agrarprodukte Venezuelas sind Kakao und Kaffee, die nahezu im gesamten Land in den Küsten- und Andenregionen angebaut werden. Im Osten, im Bezirk Puerto Ordaz der Stadt Ciudad Guayana (Bundesstaat Bolívar) haben sich viele Bergbauunternehmen angesiedelt. In diesem Teil Venezuelas liegt auch der Bundesstaat Monagas, der Öl- und Gashub für den Osten des Landes.