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Special | Baltische Staaten | 20 Jahre EU-Osterweiterung

Estland, Lettland und Litauen: Neue Wege im Nordosten der EU

Die baltischen Staaten waren bisher nicht so stark auf dem Radar deutscher Firmen wie etwa Polen. Das ändert sich gerade. Immer mehr Unternehmen entdecken das Potenzial des Trios. 

Von Niklas Becker | Helsinki

Estland, Lettland und Litauen haben seit ihrer Unabhängigkeit zu Beginn der 1990er Jahre eine beindruckende Transformation durchlaufen. Mit dem EU-Beitritt 2004 hat die Entwicklung nochmal deutlich an Fahrt aufgenommen. So lag die Wirtschaftsleistung in Estland und Lettland 2023 preisbereinigt 50 Prozent höher als 2004. Litauen kommt sogar auf 70 Prozent. Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt waren es 27,2 und in Deutschland 25,3 Prozent. 

Einen besonders guten Ruf genießen die drei Staaten im Bereich Digitalisierung. Deutlich wird ihr digitales Know-how beim Blick auf den von der Europäischen Kommission veröffentlichten Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI). Die baltischen Staaten schneiden beim Indikator "Digitale öffentliche Dienste" überdurchschnittlich gut ab. 

Estland, Lettland und Litauen haben mit Riesenschritten aufgeholt und sind Deutschland mittlerweile vor allem im IT- und Bildungsbereich weit voraus. Aktuell verstärkt sich sogar der Trend, dass baltische Unternehmen ihre Investitionstätigkeit nach Deutschland ausweiten. Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den drei baltischen Staaten entwickelt sich also hoch dynamisch. 20 Jahre EU-Mitgliedschaft und der gemeinsame EU-Binnenmarkt sind daher gerade in dieser Region eine beeindruckende Erfolgsgeschichte!

Florian Schröder Geschäftsführender Vorstand AHK Baltikum

Estland, das nördlichste und kleinste der drei Länder, gilt als Europas Vorreiter bei E-Government. Im DESI 2022 liegt es bei dem Indikator auf Platz 1. Mittlerweile lassen sich in Estland 99 Prozent der Behördengänge online erledigen. Möglich macht das die e-Residency, eine digitale Identität, die Estland 2014 als erstes Land der Welt einführte. 

10 Unicorns

kann Estland mittlerweile vorweisen.

Estlands großes Know-how und die hohe Affinität für Digitalisierung und neue Technologien werden auch im heimischen Start-up-Sektor sichtbar. Gemessen an der Einwohnerzahl hat Estland weltweit die meisten Einhörner, das sind Start-ups mit einer Unternehmensbewertung von mindestens 1 Milliarde Euro, hervorgebracht. Zehn solcher Unternehmen gibt es im Land bereits, darunter bekannte Größen wie Skype, Bolt und (Transfer)Wise. Weit fortgeschritten ist auch die Forschung zum autonomen Fahren. Eine Reihe estnischer Unternehmen entwickelt Lösungen in diesem Bereich. 

Estland sticht bei Innovationen hervor

Die enorme innovative Entwicklung, die die estnische Wirtschaft seit dem EU-Beitritt durchlaufen hat, lässt sich am European Innovation Board ablesen. Laut Ausgabe 2023 des von der Europäischen Kommission veröffentlichten Index gilt Estland als "moderater Innovator". Das Land liegt jedoch nur noch knapp unter dem EU-Durchschnitt und ist damit auf dem Sprung zur nächsten Kategorie als "starker Innovator". Und: Von allen zehn Mitgliedstaaten, die 2004 der EU beitraten, schneidet Estland nach Zypern am besten ab. Die baltische Republik hat Länder wie Spanien, Portugal und Italien im Ranking überholt. 

Das Innovation Board verdeutlich aber auch die unterschiedliche Entwicklung der drei baltischen Staaten. Zwar haben sich alle drei Volkswirtschaften gut entwickelt. Estland sticht mit Rang 12 aber merklich hervor, Litauen liegt auf Platz 19, Lettland auf Platz 25. Ein Bild, das sich bei vielen wirtschaftlichen Rankings bietet: Estland führt das baltische Trio an, Litauen ergattert Silber und Lettland Bronze. 

Estland ist der Taktgeber des Baltikums.

Theis Klauberg Rechtsanwalt

Aber auch Lettland ist ein interessanter Wirtschaftsstandort für deutsche Unternehmen. Das unterstreicht auch Theis Klauberg, der seit 2000 als Wirtschaftsanwalt in den baltischen Staaten tätig ist. "Lettland bietet - genauso wie Estland und Litauen - eine Vielzahl von Möglichkeiten für deutsche Unternehmen. Beispielsweise im Infrastrukturbereich, aber auch bei den erneuerbaren Energien", sagt der Jurist im Interview mit Germany Trade & Invest

Diese Chancen ergeben sich zum Teil auch dank europäischer Fördermittel. Bereits in den vergangenen 20 Jahren haben diese wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung der drei Staaten beigetragen. In der EU-Förderperiode 2021 bis 2027 werden Estland, Lettland und Litauen zusammen mehr als 14 Milliarden Euro europäische Gelder erhalten. 

Erneuerbare Energie im Aufschwung

Ein Schwerpunkt beim Einsatz der EU-Fördermittel ist die grüne Wende: Die baltischen Länder wollen in den kommenden Jahren stark in erneuerbare Energien investieren. Damit einher geht der Ausbau der Stromnetze. Die drei Staaten sind derzeit noch Teil des russischen Stromverbunds BRELL. Im Jahr 2025 soll der Wechsel in den europäischen Verbund erfolgen. Die Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren. 

Estland, Lettland und Litauen eint ein großes Potenzial für Offshore-Windenergie. Berechnungen der Europäischen Kommission von 2019 beziffern dieses auf insgesamt 26 Gigawatt. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 8 Gigawatt.

14,5 Gigawatt

beträgt das Potenzial für Offshore-Windkraft in Lettland laut Europäischer Kommission.

Die drei Staaten dürften aufgrund des großen Potenzials für erneuerbare Energien in einigen Jahren mehr Strom produzieren als sie für den eigenen Markt benötigen. Das macht sie zu potenziellen Energieexporteuren. Sie könnten dann beispielsweise grünen Wasserstoff nach Deutschland exportieren.  

Rail Baltica bringt die Integration ins mitteleuropäische Bahnnetz

Auch der Infrastrukturausbau profitiert in den kommenden Jahren von europäischen Fördergeldern. Mit der Rail Baltica erhalten Estland, Lettland und Litauen via Polen Anschluss an das europäische Bahnnetz mit Normalspurweite. Das bestehende Schienennetz der drei Länder nutzt russische Breitspur. Deutsche Firmen wie DB Engineering & Consulting sind an dem Bahnprojekt beteiligt. Die für 2025 geplante Fertigstellung der zweigleisigen Hochgeschwindigkeitsstrecke verzögert sich bis mindestens 2030. Rail Baltica ist aber bei weitem nicht das einzige große Schienenprojekt im Baltikum. Beispielsweise werden immer mehr Strecken elektrifiziert. 

Die Elektrifizierung der Rail Baltica ist das größte Projekt dieser Art in ganz Europa. Wir bauen eine komplett neue Infrastruktur auf. Hier wachsen Ost- und Mitteleuropa auf der Schiene zusammen, und wir können dazu beitragen.

Niko Warbanoff Geschäftsführer DB Engineering & Consulting

Deutsche Betriebe produzieren in Litauen

Mittlerweile sind in allen drei baltischen Staaten Tochterunternehmen deutscher Firmen anzutreffen. Im verarbeitenden Gewerbe konnte vor allem Litauen große Investitionen aus Deutschland gewinnen. Die beiden Automobilzulieferer Continental und Hella betreiben Produktionsstätten in Kaunas.

Der deutsche Hersteller von Holzfaserplatten Homann Holzwerkstoffe hat nahe Vilnius ein Werk errichtet, das voraussichtlich im September 2024 eröffnet wird. Ursprünglich war der Start für Ende 2023 angedacht. Probleme mit der Umweltgenehmigung verzögern die Eröffnung. Aus Sicht des Unternehmens ist die vorliegende Genehmigung nicht ausreichend belastbar für eine wirtschaftliche und wettbewerbsfähige Produktion.

Automatisierungslösungen werden interessant

In Estland, Lettland und Litauen fehlen Fachkräfte. Schwierigkeiten bei der Suche nach Personal sowie stark steigende Löhne werden die Nachfrage der Industrie nach Automatisierungslösungen stimulieren. Wie Zahlen der International Federation of Robotics (IFR) zeigen, haben die drei Staaten hier Nachholbedarf. In Litauen kamen 2022 auf 10.000 Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe 40 Industrieroboter. In Estland waren es 38, in Lettland 12. Zum Vergleich: Polen kommt auf 71.

Auch als Beschaffungsmarkt gewinnen die baltischen Staaten an Bedeutung. Günstigere Arbeitskosten als in Westeuropa, kurze Lieferwege und hohe Qualität machen Estland, Lettland und Litauen attraktiv für deutsche Einkäufer. Das gilt nicht nur für die reine Auftragsfertigung, sondern auch für die Produktion komplexerer Komponenten. Immer mehr deutsche Firmen bestellen beispielsweise Metallprodukte im Baltikum. Auch der litauische Maschinenbau sowie die Chemieindustrie bedienen zunehmend Kunden aus Deutschland.

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