Branchen | Estland | Windenergie
Kleine Schritte in die richtige Richtung
In Estland spielt die Energiegewinnung aus Ölschiefer eine große Rolle. Der Markt für Erneuerbare hat sich in den letzten Jahren nur langsam entwickelt. Das ändert sich jetzt.
29.02.2024
Von Niklas Becker | Helsinki
Estland meldet für 2023 einen Etappensieg für erneuerbare Energien. Erstmals machten sie mehr als die Hälfte der inländischen Stromproduktion aus. Fossile Brennstoffe steuerten 47 Prozent bei. Das Ergebnis ist allerdings nur ein Teilerfolg. Denn aufgrund der wirtschaftlichen Abkühlung fiel die Stromnachfrage in Estland 2023 geringer aus als im Vorjahr.
Der Rückgang der Stromproduktion betraf dabei ausschließlich Strom aus fossilen Energieträgern. Die Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien lag 2023 auf dem Vorjahresniveau. Das ist ein deutlich positives Signal, denn in Estland spielt die Stromproduktion aus klimaschädlichem Ölschiefer historisch eine große Rolle. Im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hatte das baltische Land die Produktion noch einmal hochgefahren, um fehlende Energieimporte aus Russland zu kompensieren.
Erneuerbare Energien im Aufschwung
Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen hat sich in Estland in den letzten Jahren vergleichsweise langsam entwickelt. Nun sendet der estnische EE-Markt –vor allem im Bereich Windenergie – jedoch positive Signale. Unter anderem aufgrund wegfallender Höhenbeschränkungen für Onshore-Windkraftanlagen. Je nach Region werden diese 2024, 2025 und 2027 aufgehoben.
Die anstehenden Erleichterungen haben zu einem deutlichen Zuwachs von Windenergieprojekten an Land geführt. Die guten Aussichten für Estlands Windenergiemarkt wurden auch auf der Konferenz des estnischen Branchenverbandes im Februar 2024 in Tallinn deutlich.
Positive Entwicklungen im Bereich der erneuerbaren Energien sind dringend notwendig. Denn das Land hat sich ambitionierte Klimaziele gesetzt. 2030 soll der heimische Strombedarf zu 100 Prozent aus grüner Energie gedeckt werden. Ein entscheidender Baustein zur Zielerreichung ist die Windenergie.
Kapazitäten müssen massiv ausgebaut werden
Lauri Ulm, Head of Wind Developments bei Enefit Green, einem Tochterunternehmen des staatlichen Energieunternehmens Eesti Energia, betont auf der Branchenkonferenz, dass es bis dahin noch ein weiter Weg sei. Im Jahr 2023 konnte die estnische Stromnachfrage nur für 17 Stunden ausschließlich durch erneuerbare Energie gedeckt werden.
Estland wird daher massiv in den Ausbau erneuerbarer Energien investieren müssen. Auch, weil derzeit ein nicht unerheblicher Teil des Strombedarfs über Importe bedient wird. Ulm zufolge müssten die estnischen Erneuerbaren jährlich 10.000 Gigawattstunden Strom erzeugen, um das 2030-Ziel zu erfüllen. 2023 waren es 2.600 Gigawattstunden.
Regierung hält am 2030-Ziel fest
Dass die 2030-Ziele ambitioniert sind, darüber herrschte Einigkeit bei der Branchenkonferenz. Auch Keit Kasemets, Staatssekretär im estnischen Klimaministerium, gestand dies ein. Man halte aber an dem Ziel fest und sehe es nicht als unrealistisch an. "Die derzeitige Regierung steht voll hinter diesem Ziel und es ist unsere oberste Priorität", ergänzt der Politiker. Um den Ausbau voranzutreiben, erstellt das Ministerium derzeit eine Übersicht über weitere mögliche Flächen für Onshore-Windkraftanlagen. Diese soll im Sommer 2024 veröffentlicht werden.
Estlands Regierung hat Ende Februar 2024 beschlossen, neue Windenergieauktionen durchzuführen. Jeweils 4 Terawattstunden für den Onshore- und Offshore-Bereich will sie Anfang 2025 versteigern. Die Anlagen an Land müssen spätestens am 31.12.2029 und die in der estnischen Ostsee am 31.12.2033 mit der Stromproduktion beginnen.
Klar wurde beim Branchentreffen aber auch: Die estnische öffentliche Verwaltung muss schneller werden. Viele Firmen berichten von langen Genehmigungsprozessen. Dies verzögere die Entwicklung von neuen Projekten. Nadelöhr bei der Zielerreichung wird jedoch vor allem das estnische Stromnetz sein. Besonders im Westen Estlands muss das Übertragungsnetz erheblich ausgebaut werden.
Nach Angaben von Staatssekretär Kasemets will die Regierung deshalb in das Stromnetz investieren. Estland plant zudem den Bau neuer Interkonnektoren, also Stromleitungen in andere Länder. So ist eine dritte Leitung nach Finnland, Estlink 3, angedacht. Der deutsche Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz möchte eine direkte Stromverbindung von den estnischen Offshore-Windparks nach Deutschland installieren.
Viele Projekte in der Entwicklung
Im Rahmen der Konferenz stellten verschiedene Unternehmen den Stand ihrer Projekte vor. Enefit Green entwickelt derzeit zwei estnische Windparks. Das Unternehmen will in den nächsten Jahren 400 Millionen Euro im Land investieren. "Das ist zwar eine ganze Menge, aber um das estnische 2030-Ziel zu erreichen, müssen insgesamt 3 bis 5 Milliarden Euro investiert werden. Wir sind bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten", ordnet Ulm die Investitionshöhe ein.
Das estnische Unternehmen Utilitas Wind hat bei den Auktionen 2023 Onshore-Projekte mit einer Gesamtkapazität von 300 Gigawattstunden gewonnen. Die Windparks sollen Mitte 2027 fertiggestellt werden. Evecon und Vindr sind weitere Beispiele für Entwickler von Onshore-Windkraftanlagen in Estland. Letztere plant Investitionen in Höhe von 300 Millionen Euro in Estland.
Auch Offshore-Windparks werden in Estland entwickelt. Die drei Projekte von Saare Wind Energy, Enefit Green und Utilitas Wind sind im fortgeschrittenen Planungsstadium. Die litauische Ignitis Renewables und die dänische Copenhagen Infrastructure Partners erhielten zum Jahreswechsel 2023/ 2024 die Zuschläge für die beiden Offshore-Gebiete Liivi 1 und Liivi 2.
Reichlich Chancen für deutsche Firmen
Für Unternehmen aus Deutschland bietet der estnische Markt für erneuerbare Energien viele Beteiligungsmöglichkeiten. Besonders im Offshore-Windenergiebereich arbeiten die estnischen Entwickler mit internationalen Partnern zusammen. Aber auch der dringend benötigte Ausbau des Stromnetztes bietet Chancen für deutsche Betriebe.
Best-Practice-Beispiel eines deutschen Unternehmens
Dass der estnische Energiemarkt eine Reihe von Chancen für deutsche Firmen bietet, zeigt unter anderem das Beispiel von Envelio. Der Kölner Softwareentwickler programmiert digitale Lösung für den estnischen Verteilnetzbetreiber Elektrilevi. Das deutsche Unternehmen hatte im Rahmen des Renewable-Energy-Solutions-Programms (RES-Programm) der Exportinitiative Energie eine Unterstützung für den Markteintritt in Estland erhalten und gewann 2021 eine Ausschreibung des estnischen Netzbetreibers.
In Estland gibt es einen großen Bedarf an Speichertechnologien. Der geplante Wechsel vom russisch- belarussischen Energieverbundnetz (BRELL-System) zum europäischen im Februar 2025 erhöht die Notwendigkeit zusätzlich. Das estnische Klimaministerium unterstützt die Entwicklung von Energiespeichermöglichkeiten im Land und möchte diese fördern. Konkrete Maßnahmen dafür gibt es noch nicht.