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Rechtsbericht | Russland | Vertragsrecht

Russland: Wann liegt ein Fall von höherer Gewalt vor?

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Handelsbeschränkungen und Sanktionen für deutsche Unternehmen sind enorm. Auch vertragsrechtliche Fragen stehen im Fokus.

Von Yevgeniya Rozhyna | Bonn

Der nachfolgende Beitrag gibt einen Überblick über geltende Regelungen im russischen Recht. Natürlich muss man immer den Einzelfall betrachten. Grundsätzlich gehen Vertragsklauseln den Gesetzesvorschriften vor und sind daher im Falle von Lieferausfällen oder Verzögerungen bei Zahlungen anzuwenden. Nachstehend werfen wir einen Blick auf den im Gesetz geregelten Fall der „höheren Gewalt“ beziehungsweise "force-majeure".

Regelungen im russischen Recht

Gemäß Art. 401 Absatz 1 des russischen Zivilgesetzbuch (ZGB) gilt, dass eine Vertragspartei, die eine Verpflichtung aus dem Vertrag nicht vertragsgemäß erbringt, auch hierfür haftet. Bei einer Nichterfüllung des Vertrages können vertraglich festgelegte Bußgelder oder ein Schadensersatz drohen. Kann eine Vertragspartei den Beweis erbringen, dass die ordnungsgemäße Erfüllung infolge von höherer Gewalt unmöglich geworden ist, so entfällt die Haftung. Hierfür muss zunächst geklärt werden, ob ein Fall der höheren Gewalt beziehungsweise "force-majeure" vorliegt.

Höhere Gewalt

Dazu muss zunächst der Begriff der höheren Gewalt gemäß Art. 401 Absatz 3 ZGB erfüllt sein. Demnach liegt höhere Gewalt vor, wenn die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtung im Geschäftsverkehr aufgrund außergewöhnlicher und objektiv unvermeidbarer Umstände unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich war.

Außergewöhnlich ist ein Umstand, wenn dieser vom üblichen abweicht und unter keinen Umständen zu erklären ist. Objektiv unvermeidbar ist ein Umstand, wenn jeder Teilnehmer des Handelsverkehrs, der die selbe Tätigkeit ausübt, den Eintritt des Umstandes oder seine Folgen nicht hätte vermeiden können. Die Vorschrift stellt klar, dass Pflichtverletzungen seitens der Vertragspartner des Schuldners, das Fehlen von für die Erfüllung notwendigen Waren auf dem Markt sowie Geldmangel nicht zu solchen Umständen zu zählen sind. Hingegen könnte der Wegfall der Lieferung aufgrund von mangelnden Transportmöglichkeiten einen Fall der höheren Gewalt darstellen. 

Die dauerhafte objektive Unmöglichkeit der Vertragserfüllung muss erst nach Vertragsschluss eingetreten sein. Das heißt, dass es keiner der Vertragsparteien möglich gewesen ist, auf die Umstände der Erfüllung des Vertrages einzuwirken. Konkret bedeutet dies, dass alle zumutbaren Handlungen bereits im Vorfeld vorgenommen sein müssten, um den Vertrag zu erfüllen - zum Beispiel: Leistung der Vorauszahlung vor dem Eintritt des Ereignisses oder Versicherungsverträge und Abwälzen der entsprechenden Kosten.

Force-Majeure-Klausel

Üblicherweise wird insbesondere in internationalen Verträgen eine "force-majeure“-Klausel vereinbart. Ein "force-majeure“ liegt danach in der Regel vor, wenn ein unvorhersehbares und unanwendbares Ereignis vorliegt, dessen Eintritt außerhalb der Kontrolle der Vertragsparteien liegt und auch nach objektiven Kriterien nicht vermeidbar ist. Was genau darunter fällt, ist im Einzelfall zu bestimmen. Typischerweise fallen darunter physische Ereignisse wie:

  • Naturkatastrophen (Überschwemmung, Sturm, Erdbeben, Feuer etc.),
  • Port congestion (Überlastung des Hafens),
  • Kriege,
  • Bürgerkriege,
  • Revolutionen,
  • Embargos und Boykottaufrufe,
  • im Einzelfall auch Epidemien.

Welche Folgen hat das Vorliegen höherer Gewalt?

Liegt ein anerkannter Fall der höheren Gewalt beziehungsweise eines "force-majeure“ vor, so kann die Vertragspartei:

  • die vertraglichen Verpflichtungen aufgrund von Unmöglichkeit auflösen (Art. 416 ZGB);
  • vom Vertrag im Falle der Störung der Geschäftsgrundlage zurücktreten oder diesen auflösen (Art. 451 ZGB).

Letzteres ist möglich, wenn sich die Umstände, auf deren Grundlage der Vertragsabschluss zustande gekommen ist, so schwerwiegend verändert haben, dass die Parteien, sofern sie dies hätten vernünftigerweise vorhersehen können, den Vertrag gar nicht oder zu ganz anderen Bedingungen abgeschlossen hätten und wenn sich aus dem Vertrag und seinem Wesen nichts anderes ergibt.

Zertifikate über Umstände der höheren Gewalt

Das konkrete unvermeidbare Ereignis muss für den Fall eines Rechtsstreits bewiesen werden. Hierzu kann von der russischen Handel- und Industriekammer ein entsprechendes Zertifikat ausgestellt werden. Bevor das Zertifikat ausgestellt wird, sollte die andere Partei über das Eintreten des unvermeidbaren Ereignisses informiert werden. Ein Zertifikat kann bei der Handels- und Industriekammer für Vereinbarungen und Verträge im Rahmen der inländischen Geschäftstätigkeit sowie für Exportgeschäfte aus Russland ausgestellt werden.

Wer beurteilt, ob ein Fall der höheren Gewalt vorliegt?

Die Beurteilung darüber, ob ein Fall der höheren Gewalt beziehungsweise "force-majeure“ vorliegt, ist in der Praxis der Rechtsprechung überlassen. Sanktionen und Embargos werden von der russischen Rechtsprechung nicht per se als ein Fall der höheren Gewalt angesehen. Die Rechtsprechung berücksichtigt bei der Beurteilung, ob die Vertragspartei konkrete Maßnahmen ergriffen hat, um die Folgen der höheren Gewalt abzumildern. So werden unter anderem Sanktionen als "unternehmerisches Risiko“ gewertet. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass es den Vertragsparteien vorbehalten war, eine spezielle Klausel hinsichtlich der Sanktionen abzuschließen. Dagegen könnte die Schließung von Grenzen als höhere Gewalt gewertet werden, wenn keine alternativen Lieferwege vorhanden waren.

Für Unternehmen hat das Ministerium für Industrie und Handel der Russischen Föderation (Minpromtorg) eine Hotline zur Unterstützung von Industrieunternehmen eingerichtet. Unternehmen können sich darüber informieren, welche Ereignisse unter höhere Gewalt fallen und in welchen Fällen Sanktionen gegen Lieferungen wegen der Nichteinhaltung von Vertragsbedingungen verhängt werden.

Hinweis: Am 22. März 2022 wurde eine Gesetzesinitiative eingebracht, die darauf ausgerichtet ist, Sanktionen als einen gesetzlich verankerten Grund der höheren Gewalt beziehungsweise des "force majeure“ anzuerkennen. 

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