Wirtschaftsumfeld | Ukraine | Konjunktur
Kein schneller Aufschwung in der Ukraine
Russlands Angriffe auf die Energieversorgung haben die Hoffnung auf einem schnellen Wiederaufschwung in der Ukraine zerbombt. Für 2023 wird nur ein schwaches Wachstum erwartet.
18.01.2023
Von Gerit Schulze | Berlin
Die russische Invasion in der Ukraine hat den größten Wirtschaftseinbruch seit dem Ende der Sowjetunion verursacht. Nach ersten Schätzungen des Wirtschaftsministeriums schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2022 real um 30,4 Prozent. Damit bewegt sich die Wirtschaftsleistung des einst 40 Millionen Menschen zählenden Landes nun auf dem Niveau von Sachsen.
Kaum ein Unternehmen arbeitet mit voller Leistung
Nach den russischen Angriffen auf Energieanlagen kann rund ein Viertel der Stromnachfrage derzeit nicht bedient werden. Das führt zu erheblichen Produktionsausfällen. Wie eine aktuelle Befragung des Kiewer Instituts für Wirtschaftsanalyen IER zeigt, konnten im Dezember 2022 nur 3 Prozent der Unternehmen ihre Anlagen mit voller Kapazität fahren. Für 80 Prozent der Firmenvertreter sind die Stromausfälle das wichtigste Geschäftshindernis vor den hohen Preise für Vorprodukte und der Gefahr durch Raketeneinschläge.
Im Durchschnitt büßten die ukrainischen Betriebe im Dezember 2022 etwa ein Fünftel ihrer Produktionszeiten durch Stromausfälle ein, ermittelte das IER. Besonders hoch war der Anteil im Bausektor (44 Prozent), in der Metallverarbeitung (34 Prozent) und im Maschinenbau (28 Prozent).
Doch die Unternehmen passen sich schnell an die Herausforderung an, sagte IER-Direktorin Oxana Kusjakiw bei einem Webinar. Sie stellten ihre Produktionsprozesse um, änderten die Schichtzeiten und installierten Backup-Systeme zur Notstromversorgung. Drei von vier der befragten Unternehmen haben Generatoren und Batteriesysteme angeschafft.
Die Zukunftsaussichten der Firmen bleiben dennoch trübe. Nur 30 Prozent der vom IER befragten Manager planen in den kommenden zwei Jahren eine Ausweitung ihrer Geschäftsaktivität. Dagegen erwarten 60 Prozent eine Stagnation auf dem aktuellen Niveau. Problematisch sei die geringe Nachfrage, erklärte IER-Expertin Kusjakiw. Das durchschnittliche Auftragsvolumen der ukrainischen Unternehmen reicht derzeit nur für zwei Monate.
Wachstumsaussichten nach unten korrigiert
Im November 2022 korrigierte das ukrainische Parlament bei den Haushaltsverhandlungen für 2023 die Wachstumsprognosen nach unten: von einem realen Wachstum um 4,6 Prozent auf 3,2 Prozent. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet nur noch 1 Prozent Wachstum. Konsum und Export werden sich nach IWF-Einschätzung sehr schwach entwickeln. Allerdings rechnet das Institut dank staatlicher Programme mit einer Belebung in westlichen Landesteilen. Bis Ende Oktober 2022 hatten 588 Unternehmen ihre Aktivitäten von den Frontgebieten an sicherere Standorte verlagert.
Sollte der Krieg noch 2023 enden, so hofft die Regierung, dass die ins Ausland geflüchteten Ukrainer schnell wieder in die Heimat zurückkehren und den Konsum ankurbeln. Das könnte die Nachfrage nach einheimischen Agrargütern beflügeln. Wenn auch die Blockade der Seehäfen fällt, könnte die Ukraine wieder mehr Industrierohstoffe exportieren.
Außenhandel robuster als während der Finanzkrise
Ohnehin zeigt sich der Außenhandel erstaunlich stabil angesichts des Angriffskrieges. Der Warenaustausch erreichte 2022 nach ersten Schätzungen ein Volumen von 100 Milliarden US-Dollar (US$) und schrumpfte damit um 30 Prozent. Dieser Rückgang war aber geringer als während der globalen Finanzkrise 2008/2009.
Besonders die Ausfuhr von Metallen verringerte sich wegen der Seeblockade und der Zerstörung von Produktionsanlagen (Stahlwerke in Mariupol). Auch die Landwirtschaft hatte mit Engpässen bei der Transportlogistik zu kämpfen. Der Wert der Agrarexporte schrumpfte um die Hälfte auf rund 20 Milliarden US$. Einzig der IT-Sektor konnte seine Ausfuhrerlöse 2022 steigern.
Bei den Importen zogen vor allem die Lieferungen von Brennstoffen an, seit Herbst auch von Energieausrüstungen. Allein im November 2022 importierte die Ukraine über 155.000 Generatoren (Vorjahresmonat: 9.700).
Kennziffer | 2021 | 2022 | 2023 (Prognose) 1) |
---|---|---|---|
Veränderung des BIP, in % | 3,4 | -30,4 | 3,2 |
Nominales BIP, in Mrd. US$ | 200 | 146 | 149 |
Inflation in % (Dezember zum Vorjahresmonat) | 10,0 | 26,6 | 28,0 |
Devisenreserven in Mrd. US$ (jeweils 1.12.) | 30,6 | 28,0 | k.A. |
Leitzinssatz in % (jeweils am 31.12.) | 9,0 | 25,0 | k.A. |
Durchschnittlicher Jahreswechselkurs, 1 US$ = Hrywnja | 27,3 | 32,3 | 42,2 |
Haushaltsdefizit (in % des BIP) | 3,5 | 35,8 2) | 20,6 |
Regierung kündigt Deregulierung an
Für 2023 kündigte Premierminister Denys Schmyhal mehrere Reformvorhaben zur Belebung der Wirtschaft an. Die Regierung will weitere Förderprogramme für Unternehmen auflegen, den Regionen mehr Kompetenzen zuweisen, die öffentliche Verwaltung reformieren und das Staatseigentum effizienter verwalten. Laut Schmyhal sollen die 1.000 staatlichen Regulierungsvorschriften "radikal" entschlackt werden.
Um Unternehmen und Bürger zur Zahlung von Steuern zu animieren, plant Kiew eine Steuerreform. Nach Angaben der Präsidialverwaltung soll die Besteuerung "schon bald" nach der Formel 10-10-10 erfolgen: 10 Prozent Mehrwertsteuer (derzeit 20 Prozent), 10 Prozent Einkommensteuer und 10 Prozent Körperschaftsteuer (derzeit jeweils 18 Prozent). Allerdings muss das Vorgehen noch mit den internationalen Geberorganisationen abgestimmt werden, die einen Teil des ukrainischen Haushaltsdefizits ausgleichen. Vor allem der IWF ist skeptisch gegenüber der Steuerreform.
Neue Agentur soll Wiederaufbau koordinieren
Die Regierung gründete im Januar 2023 eine neue Staatsagentur für Wiederaufbau und Infrastrukturentwicklung. Premierminister Schmyhal teilte mit, dass dieses Jahr 110 Milliarden Hrywnja (rund 2,8 Milliarden Euro, Wechselkurs am 16. Januar 2023: 1 Euro = 39,54 Hrywnja) für Wiederaufbauprojekte bereitstünden. Über Mittel aus der Spendenplattform United24 sollen 18 Wohngebäude in Irpin bei Kiew renoviert werden.
Elf Projekte für 2 Milliarden US$ hat die Fördergesellschaft UkraineInvest in der Pipeline. Darunter sechs Baustoffwerke des irischen Unternehmens Kingspan, eine Zementproduktion und eine Fabrik für Landtechnik.
Auch 2023 kann die Ukraine wieder mit finanzieller Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft rechnen, um die Staatsausgaben zu stemmen. Die EU will dieses Jahr 18 Milliarden Euro überweisen, die USA bis September umgerechnet 9,15 Milliarden Euro und die Weltbank 830 Millionen Euro. Insgesamt rechnet Kiew 2023 mit rund 35 Milliarden Euro externer Finanzierungsquellen für den Haushalt.