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Fachkräfte
In allen Branchen fehlen qualifizierte Fachkräfte. Ungarns Gesellschaft altert, Menschen wandern ab und das Bildungssystem weist Defizite auf. Regional gibt es aber Unterschiede.
31.07.2025
Von Kirsten Grieß | Budapest
Der Arbeitsmarkt in Ungarn bleibt auch im Frühjahr 2025 angespannt. Die Arbeitslosenquote lag im Mai bei 4,3 Prozent und damit leicht unter dem Vorjahreswert. Trotz anhaltend schwacher Konjunktur, die vor allem Industrie und Bauwirtschaft belastet, sind größere Entlassungswellen bislang ausgeblieben. Die Unternehmen steuern bis jetzt eher vorsichtig durch die Konjunkturflaute, etwa indem offene Stellen nicht nachbesetzt werden.
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Die Zahl der Beschäftigten sinkt
Die konjunkturelle Entwicklung schlägt sich dennoch in den Beschäftigtenzahlen nieder: Im Mai 2025 zählte das Statistikamt 4,67 Millionen Erwerbstätige im Alter von 15 bis 74 Jahren – rund 42.000 weniger als im Jahr zuvor. Geschrumpft ist die Beschäftigung vor allem im verarbeitenden Gewerbe. Aber auch in der Bau- und Landwirtschaft gingen Stellen verloren. Arbeitsmarktexperten sehen zudem Anzeichen einer Abwärtsspirale: Sollte die wirtschaftliche Erholung weiterhin ausbleiben, könnte die Stimmung kippen und Unternehmen beginnen, über weitreichenden Personalabbau nachzudenken.
Dass es bislang nicht dazu kam, liegt vor allem am chronischen Fachkräftemangel. Qualifizierte Beschäftigte fehlen in nahezu allen Branchen, zunehmend auch Arbeitskräfte in der Produktion, auf dem Bau, in der Logistik und im Dienstleistungssektor. Die Suche nach Personal ist schwierig und kostenintensiv. Und die Einarbeitung neuer Arbeitskräfte ist oft mit erheblichem Aufwand verbunden. Hinzu kommt: Die Bevölkerung geht in Ungarn seit Jahren zurück, die Geburtenrate lag 2024 bei nur 1,39 Kindern pro Frau. Zugleich wandern viele Hochqualifizierte ins Ausland ab – vor allem nach Deutschland, wo deutlich höhere Löhne winken.
Duale Ausbildung mit Lücken
Ein Hauptproblem des ungarischen Arbeitsmarkts ist das stark unterfinanzierte öffentliche Bildungssystem. Laut OECD liegt der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Ungarn deutlich unter EU-Durchschnitt – ebenso wie der Anteil junger Hochschulabsolventen. Auch bei Fremdsprachenkenntnissen schneidet Ungarn schlecht ab: Im IMD World Talent Ranking 2024 belegte das Land lediglich Rang 63 von insgesamt 67 Ländern. In der Kategorie Fachkräfteverfügbarkeit landete Ungarn sogar auf dem letzten Platz.
Kritisiert werden Defizite in der beruflichen Bildung - nicht zuletzt von Industrievertretern. Zwar existieren gesetzliche Grundlagen für ein duales Ausbildungssystem, doch die Umsetzung ist landesweit uneinheitlich. Viele Unternehmen reagieren mit Eigeninitiativen: Vor allem größere deutsche Firmen entwickeln gemeinsam mit lokalen Bildungseinrichtungen maßgeschneiderte Ausbildungsprogramme. Doch solche Projekte bleiben meist Insellösungen und reichen bei Weitem nicht, um den flächendeckenden Fachkräftemangel zu bekämpfen.
Regionale Unterschiede beim Arbeitskräfteangebot
Bei Standortentscheidungen in Ungarn spielen regionale Unterschiede im Arbeitskräfteangebot und Bildungsniveau eine zentrale Rolle. Laut Eurostat lag die durchschnittliche Erwerbsquote der 15- bis 64-Jährigen im 4. Quartal 2024 bei 75 Prozent und damit 4,1 Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt. Zwischen den einzelnen ungarischen Regionen variiert die Beschäftigungsquote allerdings um mehr als 10 Prozentpunkte.
In den westlichen Landesteilen, der Hauptstadt Budapest und in etablierten Industriezentren ist der Arbeitsmarkt mit Erwerbsquoten von knapp 80 Prozent nahezu ausgeschöpft. In südlichen und östlichen Regionen liegt die Quote hingegen bei rund 70 Prozent. Um dieses Ungleichgewicht zu verringern, fördert die Regierung mit gezielten Investitionsanreizen strukturschwächere Gebiete. Gleichwohl bezweifeln insbesondere Bildungsexperten, dass sich der Arbeitskräftepool in wirtschaftlich benachteiligten Regionen in ausreichendem Maß mobilisieren lässt.
Für Investoren empfiehlt sich daher eine frühzeitige Zusammenarbeit mit ortskundigen Personalberatern. Denn ist das benötigte Personal vor Ort nicht verfügbar, kann es schnell eng werden. Ungarische Arbeitskräfte gelten als wenig mobil – längere Pendelstrecken oder der Umzug für eine neue Arbeitsstelle sind im Land eher unüblich. Das erschwert die Rekrutierung gerade in strukturschwächeren Regionen.
Industriepolitik verschärft den Arbeitskräftemangel
Mit Fördergeldern wirbt die ungarische Regierung gezielt um ausländische Investoren – und verschärft damit den Wettbewerb um Arbeitskräfte. Allein 2024 verbuchte die staatliche Investitionsagentur HIPA Projekte im Umfang von 10,3 Milliarden Euro, die rund 19.000 neue Jobs schaffen sollen.
Während viele Vorhaben noch in der Anlaufphase sind, wird es in Debrecen konkret: Dort wollen BMW und CATL Ende 2025 neue Fabriken in Betrieb nehmen. Insgesamt sollen in der 210.000 Einwohner zählenden Stadt etwa 12.000 Arbeitsplätze entstehen – ein Bedarf, der mit lokalen Kräften kaum zu decken ist. Laut Medienberichten plant CATL noch in diesem Jahr die Anstellung von 500 Arbeitskräften aus den Philippinen.
Ausländische Arbeitskräfte: Regulierung statt Öffnung
Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte ist kein neues Phänomen. Seit fast einem Jahrzehnt steigt die Zahl der Beschäftigten aus Drittstaaten kontinuierlich. Die Rekrutierung läuft meist über spezialisierte Leiharbeitsfirmen, die neben Arbeitsgenehmigungen auch Unterkünfte und Verwaltungsleistungen organisieren. Die Regierung hatte die Anwerbung lange erleichtert, vollzog Anfang 2024 jedoch eine Kehrtwende. Seither werden die Bedingungen für Nicht-EU-Arbeitskräfte schrittweise verschärft.
Seit Anfang 2025 gilt ein strengeres Kontingent für Gastarbeiter: Die Regierung senkte die Obergrenze von 65.000 auf 35.000 und beschränkte die Herkunftsländer auf Armenien, Georgien und die Philippinen. Bereits im Land befindliche Arbeitskräfte sind davon nicht betroffen. Viktor Göltl, Geschäftsführer der Personalagentur WHC, zeigt sich dennoch gelassen. Angesichts der wirtschaftlichen Lage sei offen, ob 2025 überhaupt zusätzlicher Bedarf bestehe. Bei steigender Nachfrage rechnet er mit einer flexiblen Anpassung der Quote.