Rechtsbericht | Vietnam | Arbeitsrecht
Arbeitsrecht
Das vietnamesische Arbeitsrecht ist auf den Arbeitnehmerschutz ausgerichtet. Recht und Praxis weichen zum Teil stark voneinander ab.
20.08.2025
Von Peter Buerstedde, Dr. Julio Pereira | Hanoi, Berlin
Vergütung: Kann in Kollektivverträgen zwischen dem Arbeitgeber und Gewerkschaftsvertretern im Betrieb geregelt werden (diese enthalten auch Regelungen zu Arbeits- und Pausenzeiten, Sozialversicherung, Arbeitsschutz); Flächentarifverträge gibt es nicht. |
Mindestlohn: Festgelegt durch Regierungsdekret, basierend auf vier geografischen Zonen. Erhöhung von 5 Prozent auf 7 Prozent im Jahr 2025; wird unregelmäßig angepasst. |
Arbeitsstunden pro Woche: 48 Stunden an sechs Tagen; bei besonders schwerer oder gefährlicher Arbeit sechs Stunden am Tag |
Regelarbeitstage pro Woche: Montag bis Freitag oder Samstag |
Zulässige Überstunden: Maximal 40 pro Monat und 300 im Jahr – bis zu 300 Stunden pro Jahr (in speziellen Sektoren wie Textil und Export) |
Bezahlte Feiertage: 11 |
Bezahlte Urlaubstage: 12 Tage im Jahr (bei einem Arbeitsverhältnis von 12 Monaten, normale Arbeitsbedingungen); 14 Tage für Arbeitnehmer unter 18 Jahren (Altersuntergrenze: 16) und für solche, die großen Belastungen/Gefahren ausgesetzt sind; 16 Tage für besonders gefährliche Arbeiten (zum Beispiel Bergbau); nach jeweils fünfjähriger Betriebszugehörigkeit erhöht sich der Urlaubsanspruch um einen Tag; bezahlter Urlaub ist außerdem zu gewähren bei eigener Hochzeit (3 Tage), Hochzeit eines Kindes (1 Tag), Tod eines Elternteils, der Schwiegereltern, des Ehegatten oder eines Kindes (je 3 Tage) |
Sonderzahlungen pro Jahr in Monatslöhnen: Nicht verpflichtend, aber üblich (13. Monatsgehalt als Jahresbonus und/oder Neujahrsbonus); gegebenenfalls 14. Jahresgehalt als Leistungsbonus (hängt von der internen Richtlinie des Unternehmens ab) |
Tage mit Lohnfortzahlung bei Krankheit: Bis zu 30 Tage/Jahr (weniger als 15 Jahre Dienstzeit), 40 Tage (15 bis 30 Jahre Dienstzeit), 60 Tage (mehr als 30 Jahre Dienstzeit); von der Krankenkasse zu 75 Prozent des Gehalts bezahlt. Für Kinderbetreuung: bis zu 20 Tage/Jahr, wenn das Kind unter drei Jahre alt ist; bis zu 15 Tage/Jahr für Kinder zwischen 3 und 7 Jahren. |
Probezeit: Bis zu 60 Tage für Tätigkeiten, die einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss erfordern; bis zu 30 Tage für Tätigkeiten, die einen Berufsschulabschluss erfordern sowie für technische und sonstige Facharbeiter; bis zu 6 Tage für alle anderen Tätigkeiten; für Führungspositionen 180 Tage |
Rechtsgrundlagen
Grundlage des vietnamesischen Arbeitsrechts ist das Arbeitsgesetzbuch 2019 (Bộ luật số 45/2019/QH14), das am 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist. Dieses implementiert unter anderem grundlegende Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Verbot der Zwangsarbeit oder die Verpflichtung zur Zulassung freier Gewerkschaften. Diese Bestimmungen wurden durch das neue Gewerkschaftsgesetz (Luật số: 50/2024/QH15) verstärkt, das seit dem 1. Juli 2025 gilt und das Vereinigungsrecht auch ausländischen Arbeitnehmern gewährt.
Das Arbeitsgesetzbuch gibt den allgemeinen Rahmen für ihre Anwendung vor, der durch die von der Regierung oder den zuständigen Ministerien erlassenen Durchführungsbestimmungen ergänzt wird. Maßgeblich ist das Arbeitsministerium (MOLISA). Seit März 2025 ist die Zuständigkeit für die Regelung und Überwachung der Verwaltung ausländischer Arbeitskräfte gemäß dem Erlass Nr. 25/2025/NĐ-CP auf das Innenministerium übertragen worden.
Für ausländische Arbeitnehmer gilt die Verordnung Nr. 152 von 2020 (Nghị định 152/2020/NĐ-CP). Gegenwärtig sind die Arbeitgeber verpflichtet, regelmäßig über die Beschäftigung von Ausländern zu berichten, die in das Sozialversicherungssystem aufgenommen werden können, sofern sie mindestens zwölf Monate lang vor Ort beschäftigt waren.
Vertragsabschluss
Vietnam schreibt den Schutz der Arbeitnehmerrechte groß. In der Folge wird die Gesetzgebung regelmäßig zugunsten der Arbeitnehmer interpretiert.
Dem vietnamesischen Arbeitsrecht unterliegen auch aus dem Ausland entsandte Arbeitnehmer, die in Vietnam aufgrund eines lokalen Arbeitsvertrags (in Ergänzung zum ausländischen Entsendevertrag) tätig sind. Der Arbeitsvertrag muss den Vorgaben des vom Arbeitsministerium herausgegebenen Standardvertrags sowie gesetzlichen Bestimmungen entsprechen. Widersprüche zur Gesetzgebung können zur Unwirksamkeit eines Arbeitsvertrages führen (Art. 49 Arbeitsgesetzbuch). In der Praxis empfiehlt es sich, den Standardvertrag um die spezifischen Anforderungen des jeweiligen Unternehmens zu ergänzen. Seit 2025 sind digitale Arbeitsverträge offiziell gültig, auch mit elektronischer Unterschrift und können bei ausländischen Beschäftigten zweisprachig sein.
Das Arbeitsgesetz 2019 sieht vor, dass auch informelle Vereinbarungen oder als Dienstleistungsverträge bezeichnete Dokumente als Arbeitsvertrag zu qualifizieren sind, wenn der zugrundeliegende Vertrag eine Berufsbeschreibung, eine Vergütung sowie Aufsichts- und Disziplinarrechte einer Vertragspartei vorsieht (Art. 13 Abs. 1 Arbeitsgesetzbuch). Ziel ist, einer Scheinselbstständigkeit vorzubeugen.
Lange Befristungen möglich
Verträge können befristet oder unbefristet geschlossen werden. Befristete Arbeitsverträge haben eine Höchstdauer von 36 Monaten und können einmal um den gleichen Zeitraum verlängert werden. Wird der Mitarbeiter nach Ablauf der zweiten Befristung weiterbeschäftigt, wandelt sich das Arbeitsverhältnis automatisch in ein unbefristetes Verhältnis (Art. 20 Arbeitsgesetzbuch). Mehr als einmal befristet verlängert werden dürfen unter anderem Verträge mit ausländischen Angestellten.
Möglich ist zudem die Vereinbarung einer Probezeit, innerhalb derer beide Vertragsparteien das Arbeitsverhältnis ohne Angabe von Gründen oder einer Verpflichtung zu einer Abfindung auflösen können. Die Probezeit wird von beiden Parteien je nach Umfang und Komplexität der Tätigkeit vereinbart. Die zulässige Höchstdauer der Probezeit beträgt für einfache Tätigkeiten sechs Tage, für Tätigkeiten, die eine berufliche Ausbildung voraussetzen, 30 Tage sowie für Arbeiten, für die eine Hochschulausbildung erforderlich ist, 60 Tage. Bei Führungspositionen kann eine Probezeit von maximal 180 Tagen vereinbart werden. Der innerhalb der Probezeit gezahlte Lohn muss mindestens 85 Prozent des späteren Gehalts entsprechen (Art. 25 bis 27 Arbeitsgesetzbuch). Im Rahmen der Bemühungen um die Digitalisierung von Verträgen sieht die aktuelle Gesetzgebung nun vor, dass auch Probezeiten schriftlich dokumentiert und elektronisch erfasst werden müssen.
Die Arbeitszeit beträgt je nach betrieblicher Regelung bis zu 48 Stunden pro Woche. Die gesetzliche Arbeitszeit darf zehn Stunden pro Tag nicht überschreiten (Art. 105 Arbeitsgesetzbuch). Die Überstunden dürfen 50 Prozent der regulären Arbeitszeit nicht übersteigen und die gesamte Tagesarbeitszeit kann höchstens zwölf Stunden betragen. Erlaubt sind maximal 40 Überstunden im Monat oder 200 im Jahr. In den wichtigen Exportsektoren sind aber 300 Überstunden rechtlich möglich (Art. 107 Arbeitsgesetzbuch). Vielfach arbeiten Fabrikarbeiter wesentlich mehr als zugelassen.
Auch Regelungen zu Streikrechten sind ausführlich im Arbeitsgesetzbuch geregelt. Gesetzlich dürfen Arbeitnehmer neben der Staatsgewerkschaft eine staatlich unabhängige Gewerkschaft gründen (Art. 170 Arbeitsgesetzbuch). Vietnam hatte sich als ILO-Mitglied und Vertragspartner des Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP)-Freihandelsabkommens dazu verpflichtet. Derzeit ist das praktisch aber nicht möglich. Hierzu soll ein eigenes Gesetz verabschiedet werden. Mit der Verabschiedung des neuen Gewerkschaftsgesetzes 2024, das am 1. Juli 2025 in Kraft getreten ist, wurden einige Beschränkungen überwunden. So ist beispielsweise die Gründung unabhängiger Basisgewerkschaften und die freiwillige Mitgliedschaft von Arbeitnehmern, einschließlich Ausländern, erlaubt, sofern sie die gesetzlichen Kriterien erfüllen.
Rechte und Pflichten der Vertragsparteien
Unternehmen ab zehn Mitarbeitern sind zur Abfassung interner Arbeitsrichtlinien verpflichtet (Art. 119 Arbeitsgesetzbuch). Damit diese Gültigkeit haben, müssen sie beim Arbeitsministerium oder bei der lokalen Arbeitsbehörde (Department of Labor, Invalids and Social Affairs) registriert werden. Ab 2025 müssen diese internen Regelungen auch verbindliche Maßnahmen gegen Mobbing, Zwangsarbeit und Diskriminierung enthalten, wie es das neue Gewerkschaftsgesetz vorschreibt.
Unter anderem sollten folgende Punkte in die internen Regelungen aufgenommen werden (Art. 118 Arbeitsgesetzbuch):
- Arbeits- und Ruhezeiten,
- Ordnungsvorschriften innerhalb des Unternehmens,
- Berufssicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz,
- Schutz des Vermögens und der Vertraulichkeit von Betriebsgeheimnissen,
- konkrete Beispiele zu Verhaltensweisen, die einen Verstoß gegen diese Bestimmungen bedeuten, sowie die zu erwartenden Strafen (wie offizielle Rüge, Aussetzung von allgemeinen Lohnsteigerungen, Versetzung auf eine andere Stelle mit niedrigerem Lohn, Entlassung).
Gerade für die Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen sind die internen Regelungen wichtig, um ein Fehlverhalten zu etablieren und beweisbar zu machen. Nach der neuen Regelung hängt die Wirksamkeit von Disziplinarmaßnahmen auch davon ab, ob dokumentierte Schulungen stattgefunden haben und ob die internen Vorschriften dem Mitarbeiter zuvor ausgehändigt wurden, auch in digitaler Form und mit Empfangsbestätigung.
Vertragsbeendigung
Soll das Vertragsverhältnis beendet werden, ist zwischen ordentlichen und außerordentlichen sowie zwischen betriebsbedingten und personen-/verhaltensbedingten Kündigungen zu unterscheiden. Bei ordentlichen Kündigungen variieren die Kündigungsfristen zwischen 30 Tagen bei befristeten und 45 Tagen bei unbefristeten Verträgen. Bei Verträgen mit einer Laufzeit von weniger als zwölf Monaten beträgt die Frist mindestens drei Arbeitstage (Art. 35 Arbeitsgesetzbuch). Ab Juli 2025 müssen elektronische Verträge ausdrückliche Klauseln zur Vorankündigung enthalten, und der Nachweis der Einhaltung der Frist hängt von der digitalen Aufzeichnung der Kündigungen ab.
Im Fall einer verhaltensbedingten Kündigung ist durch den Arbeitgeber eine Abfindung in Höhe eines halben Monatsgehalts zuzüglich Zulagen pro gearbeitetem Jahr zu zahlen. Das für die Berechnung der Abfindung herangezogene Gehalt ist der Durchschnitt der letzten sechs Gehälter, die dem Arbeitnehmer gezahlt wurden (Art. 46 Arbeitsgesetzbuch).
Rechtspraxis
Die einseitige Durchsetzung einer Kündigung ist in der Regel letztes Mittel. Firmen, die auf ihren Ruf bedacht sind, versuchen selbst in Extremfällen, eine gütliche Einigung zu finden. Auch wenn es selten zu gerichtlichen Verfahren kommt, steht das Arbeitsrecht meist auf der Seite der Arbeitnehmer.
Eine Kündigung ist bei einem festen Arbeitsverhältnis nur mit Grund möglich. Potenzielle Kündigungsgründe sind solche, die im Gesetz sowie in den Arbeitsrichtlinien des Unternehmens aufgeführt sind. Im Rahmen der Kündigung sollten die Gründe detailliert und transparent aufgelistet werden. Dies stellt im Nachhinein klar, dass keine Willkürmaßnahme vorliegt.
Gütliche Einigungen bei Kündigung üblich
Weil Kündigungen auf dem Gesetzeswege unüblich und schwierig sind, werden alle Möglichkeiten der Vertragsbefristung ausgeschöpft. Um eine gütliche Einigung hervorzurufen, ist der Aufhebungsvertrag eine gangbarere Variante. Dieser regelt unter anderem den an den Arbeitnehmer zu zahlenden Betrag (Abfindung, Sachzuwendungen) und beinhaltet die Verpflichtung des Arbeitnehmers, auszuscheiden und den Arbeitgeber von allen Ansprüchen freizustellen.
Arbeitnehmer genießen erheblich mehr Freiheiten, ihren Arbeitsplatz zu quittieren. Rein rechtlich reicht es, eine Mitteilung über die Kündigung innerhalb der geltenden, kurzen Mitteilungsfristen einzureichen. In der Praxis kommt es aber immer wieder vor, dass Mitarbeiter deutlich früher gehen, ohne dass dies zu Konsequenzen führt.
Präsenz im Büro
Die Corona-Pandemie hat in den meisten Unternehmen zu wenig organisatorischen Veränderungen geführt. Der Alltag der im Büro arbeitenden Bevölkerung ist oft noch strikt durchgeplant. Fixe Präsenzzeiten sind die Regel.
Umgehung der Sozialversicherungspflicht ist üblich
Um Sozialversicherungskosten einzusparen, schließen manche Unternehmen mit dem Arbeitnehmer zwei Arbeitsverträge. Dann werden nur auf den Vertrag mit dem niedrigeren Gehalt Sozialabgaben bezahlt. An dieser – gesetzlich nicht gedeckten – Praxis haben oft beide Seiten Interesse. Die Arbeitgeber wollen ihre Lohnkosten minimieren und viele Beschäftigte vertrauen den Sozialkassen nicht. Sie bevorzugen eine eigene Altersvorsorge.
Einige Arbeitgeber führen gesetzwidrig überhaupt keine Sozialabgaben ab. Investoren, die ein lokales Unternehmen übernehmen wollen, sollten im Rahmen der Due-Diligence-Prüfung auch die Sozialversicherungsbuchführung genau untersuchen, um später nicht mit ausstehenden Forderungen konfrontiert zu werden.
Neues Dekret könnte Arbeitserlaubnisse erleichtern
Ausländische Arbeitnehmer, die in Vietnam arbeiten sollen, benötigen neben einem Arbeitsvisum auch eine Arbeitserlaubnis. Eine Arbeitserlaubnis wird für eine Höchstdauer von zwei Jahren zuerkannt, mit der Möglichkeit der einmaligen Verlängerung um weitere zwei Jahre. Im Erlass 219/2015/ND-CP sind Ausnahmen und die Voraussetzungen zur Entsendung von Experten präzisiert und die Verfahren gestrafft worden. Ob das die Erteilung erleichtert, muss sich noch in der Praxis erweisen. Das Verfahren zur Erteilung einer Arbeitserlaubnis war bisher aufwändig und langwierig. Auch unterschied sich die Vergabepraxis je nach Provinz, in der Anträge gestellt werden. Der neue Erlass erlaubt, einige Verfahrensschritte gleichzeitig durchzuführen.
Von der Erfordernis der Arbeitserlaubnis ausgenommen sind einzelne Berufsgruppen wie Investoren oder Geschäftsführer eines Unternehmens in Vietnam. Mitarbeiter, die für höchstens 90 Tage innerhalb eines Kalenderjahres im Land tätig werden, benötigen für Einreise und Berufstätigkeit ebenfalls keine Arbeitserlaubnis. Der Erlass 219 hat die erforderliche Arbeitserfahrung für Experten verringert.
Um das Verfahren zur Erteilung einer Arbeitserlaubnis ohne größere Probleme zu durchlaufen, greifen Unternehmen in der Regel auf Anwaltskanzleien vor Ort zurück. Lokale Agenturen werben teilweise damit, dass sie Erteilungs- und Genehmigungsverfahren schneller und unkomplizierter regeln könnten. Allerdings gibt es nicht selten unseriöse oder sogar illegal agierende Agenturen.
Aufenthalte ohne Visum möglich
Manche Unternehmen nutzen für Kurzzeitarbeitseinsätze Touristenvisa. Vietnam hatte im August 2023 die Geltungsdauer von Visa für deutsche Staatsbürger verlängert. Sie können jetzt für einen Aufenthalt von bis zu 45 Tagen ohne Visum einreisen. E-Visa werden für bis zu 90 Tage erteilt, mit der Möglichkeit der mehrfachen Einreise.