Markets International 4/24 I Schwerpunkt Künstliche Intelligenz I Interview
"KI ist evolutionär und revolutionär zugleich“
Lukas Klingholz leitet beim Branchen-Verband Bitkom das Team Cloud und Künstliche Intelligenz (KI). Er beschäftigt sich dort vor allem mit regulatorischen Themen und der Marktentwicklung im Bereich KI. Mit Marktes International sprach er über die Stärken und Schwächen des KI-Standorts Deutschland.
29.07.2024
Von Christina Otte, Christiane Süßel | Bonn
Herr Klingholz, künstliche Intelligenz (KI) wird mitunter als ähnlich revolutionär wie die Erfindung der Dampfmaschine oder die Elektrifizierung angesehen. Welche Potenziale bietet sie Ihrer Meinung nach für Unternehmen?
Es kristallisiert sich heraus, dass Menschen die Potenziale von disruptiven neuen Technologien kurzfristig überschätzen und langfristig unterschätzen. Das werden wir auch bei KI sehen. Die Potenziale sind sehr, sehr groß, aber es wird dauern, bis sie in der Breite genutzt werden.
Was heißt das konkret? Klassische KI-Verfahren wie Bild- und Texterkennung sind in der Fachwelt schon länger ein Thema. Durch die jüngeren Entwicklungen bei generativer KI ist in den vergangenen zwei Jahren quasi jeder Mensch mit dem Thema KI in Berührung gekommen. KI wird so zu einem Massenphänomenen. Es dauert aber, bis Unternehmen verstehen, wie sie KI-Technologien ganz konkret für etablierte Anwendungen nutzen können, um so Prozesse zu optimieren und zu automatisieren.
Der nächste Schritt ist es dann, mit KI ganz neue Prozesse und damit auch neue Geschäftsmodelle zu designen. Meine Kernaussage ist: Die Potenziale für Optimierung, Automatisierung und neue Prozesse durch KI sind sehr hoch. Jetzt ist Erfindergeist gefragt, um die Innovationen in den Betrieb zu integrieren. Die Anwendungsmöglichkeiten in den verschiedensten Sektoren sind sehr breit: KI ist evolutionär und revolutionär zugleich.
Was müssen Unternehmen beachten, wenn sie KI im Unternehmen einführen?
Ich will drei Punkte nennen: Es gibt KI, quasi von der Stange, die man einfach nutzen kann. Ihre Anwendung lässt sich relativ schnell umsetzen. Einen tatsächlichen Mehrwert schafft man hingegen, wenn man Daten der eigenen Organisation nutzt, um vorhandene Technologien auf Basis der eigenen unternehmensspezifischen Daten weiterzuentwickeln. Das ist die Königsdisziplin.
Die Grundlage hierfür ist eine entsprechende Datenarchitektur und Datenqualität: Ich muss Daten vorliegen haben, technologisch auf sie zugreifen und sie ohne großen Aufwand aufbereiten können. An zweiter Stelle gilt es, das Thema Rechtssicherheit zu beachten. Es wichtig, dass ich für mein KI-Training nur Daten nutze, die ich mit Blick auf den Datenschutz und Urheberrechte auch verwenden darf.
Zudem muss ich mich im Rahmen des AI Acts der EU bewegen, und ich sollte mich mit internen Stakeholdern abstimmen, um auch arbeitsrechtlich konform zu agieren. Der dritte Block ist eine Managementaufgabe. Auch wenn es ein wenig platt klingt: Es gilt die Mitarbeiter mitzunehmen. Es ist zentral, ihnen zu zeigen, dass sie mit KI befähigt werden, Prozesse effizienter umzusetzen. Sie sollten KI als Partner und nicht als Gegner sehen.
Markets International Ausgabe 4/24
Markets International 04/24 | © GTAIDieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift Markets International, Ausgabe 4/2024. Erfahren Sie, welche weiteren Beiträge die Ausgabe für Sie bereit hält.
Was ist zu bedenken, wenn ein Unternehmen nicht nur im deutschen Mutterhaus KI einsetzen möchte, sondern auch in den Niederlassungen im Ausland?
Hier gilt es zwei Ebenen zu unterscheiden: Das eine ist der Einsatz von KI im Unternehmen, das andere ist sie auch in Verkehr bzw. auf den Markt zu bringen. Für beide gilt, dass ich natürlich den jeweiligen Rechtsrahmen berücksichtigen muss. Je nachdem, in welchem Teil der Welt ich unterwegs bin, muss ich sowohl als Anbieter als auch als reiner Nutzer unterschiedliche rechtliche Fragestellungen beachten. Ich darf in manchen Regionen andere Sachen als in anderen. Insbesondere wenn man Produktentwicklungskosten optimieren will, sollte man schauen, wo es Synergien bei der Umsetzung von Regulatorik gibt. Ich muss das Rad ja nicht jedes Mal neu erfinden.
Die USA sind Deutschland ziemlich weit voraus in der KI-Nutzung und Anwendung. Deutschland scheint hinterherzulaufen. Ist das so?
Deutschland hat eine historisch ausgeprägte Kompetenz in der Automobilindustrie, im produzierenden Gewerbe, in der Pharmazie und Chemie und hat hier viele starke Unternehmen. Unser Mittelstand ist stark exportorientiert. Die IT-Industrie ist traditionell keine deutsche Leitindustrie, auch wenn es natürlich Ausnahmen wie das Flaggschiff SAP gibt.
Jetzt geht es zum einen darum, KI in der Breite in den traditionell starken Domänen zu nutzen und so dort die Marktführerschaft zu erhalten. Die zentrale Frage ist: Wie kann ich mit KI in diesen Industrien neue Geschäftsmodelle vorantreiben? Es sind aber zwei Ebenen: Die breite Nutzung von KI auf der Anwenderseite und die Besetzung von Nischen auf der Anbieterseite. Hier müssen sich starke Player entwickeln. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, wie europäische und deutsche Player ihre Nische finden und diese erfolgreich besetzen.
Was muss passieren, damit wir diese Anbieter stärken können?
Es gibt drei Punkte: An erster Stelle steht die Frage: Wie können wir Regulierung effizient umsetzen? Es wird sich etwa zeigen, wie gut der AI Act funktioniert. Der zweite Punkt sind die Rahmenbedingungen für die Skalierung und das Wachstumskapital von Start-ups. Deren Finanzierung ist in Deutschland eine Dauerbaustelle. Und der dritte Punkt ist, dass der Staat ja auch mit der Beschaffung vorangehen kann: Er ist ein großer Nachfrager nach IT. Hier hat er eine Gestaltungsoption und kann eigene Akzente setzen.
Was konkret könnte der Staat beschaffen?
Der Cloud-Bereich ist ein großes Thema, da gibt es bereits große Ausschreibung. Im Bereich KI gibt es seitens Bund, Ländern und Kommunen diverse Projekte zur KI-Nutzung. Hier kann die Verwaltung durch Beschaffung eigene Akzente setzen. Zahlen, wie der DESI-Index (Digital Economy and Society Index), belegen aber, dass Deutschland bei der Digitalisierung in der Verwaltung bisher nicht ganz vorne mitspielt.
Wir sind auf die Schwächen des KI-Standorts Deutschland eingegangen. Andersherum gefragt: Was sind denn Deutschlands Stärken?
Deutschland hat eine starke Industrie, hat starke Player mit starken Domänen- und Nischenwissen. Es gibt viele Bereiche, in denen es deutsche Weltmarktführer gibt. In diesem Umfeld kann Deutschland auch eine KI-Führerschaft erlangen.
Was muss geschehen, damit wir beim Thema KI nicht abgehängt werden?
Der zentrale Punkt ist, KI wirklich in der Breite zu nutzen, verschiedene Technologien auszuprobieren und nicht zu warten. Die Frage ist, wo kann ich sinnstiftend KI einsetzen und wo nicht? Und es gilt, Erfahrungen zu sammeln und weg von abstrakten Visionen zu kommen. Die zweite Aufgabe ist, auf der Anbieterseite die Player zu stärken, mit ihnen Projekte zu realisieren und in den jeweiligen Nischen, konkrete Projekte umzusetzen. Ziel muss es sein, domänenspezifische Modelle voranzubringen, die Antworten auf bestimmte Fragestellungen für die gesamten Branche bieten.
Man kann man vereinfacht sagen, dass die US-Amerikaner Anwendungen fürs alltägliche Leben schaffen und die deutschen KI-Entwickler sich eher auf Anwendungen für den Business-to-Business-(B2B)Bereich konzentrieren?
Ich würde das nicht ganz so schwarz-weiß sehen. Es gibt deutsche Unternehmen mit einem Consumer-Fokus und umgekehrt auch US-Unternehmen, die im B2B-Geschäft aktiv sind. Aber es ist sicherlich tendenziell so, dass Deutschland als Volkswirtschaft insgesamt stärker einen B2B-Fokus hat.
Mag das auch ein Grund für die Wahrnehmung sein, dass wir in der KI nicht viel tun?
Das ist sicherlich ein Aspekt. Es gibt in den klassischen KI-Verfahren wie Bild-, Sprach- und Mustererkennung schon seit vielen Jahren Nutzung in der Breite, über die in der Wirtschaft ganz viel gesprochen wird. Und im Zuge des Booms der generativen KI interagiert quasi jeder Konsument irgendwie mit amerikanischen Unternehmen. Dagegen sind deutsche KI-Lösungen weniger bekannt.
Muss sich das ändern?
Es ist sicherlich gut, über Best Practices Bescheid zu wissen. Was ist der Status quo am Markt und was machen meine Wettbewerber? Die Unternehmen müssen schaun, dass sie ihre Marktführerschaft auch behalten. Es gilt das Wissen zu nutzen, das in den Branchen vorhanden ist.
Welche Auswirkungen wird KI auf die Arbeitswelt haben? Es gibt Studien darüber, dass beispielsweise bislang hochqualifizierte Arbeitsplätze wegfallen könnten.
KI wird sicherlich die Arbeitswelt verändern. Ob durch sie Arbeitsplätze tatsächlich wegfallen, das ist in der Wissenschaft umstritten. Es entstehen neue Jobs und bestimmte Jobs fallen wiederum weg. Ganz sicher werden sich Tätigkeitsprofile verändern. Die Kooperation mit KI-Systemen wird ein immer wichtigeres Thema sein. Andererseits trägt die Demographie dazu bei, dass wir ein viel geringeres Erwerbspotenzial haben werden. Wir brauchen den Produktivitätsbooster, den KI verspricht, dringend, um den demographisch bedingten Arbeitskräfterückgang abzufedern.
Blicken wir in die Zukunft: Was wird KI in 10 oder 20 Jahren möglich machen?
Wenn wir auf unser Privat- und Berufsleben blicken, wird KI mehr und mehr zu einem smarten Assistenten, der Prozesse vereinfacht, für die wir heute noch viel Zeit investieren. Einfache repetitive Routinetätigkeiten werden wir in Zukunft immer seltener selbst erledigen.
Wird die digitale Welt künftig einen größeren Raum einnehmen?
Das ist sicherlich auch eine Begleiterscheinung. Wir werden mehr Dinge digital erledigen und auch verstärkt digital interagieren, aber trotzdem sind ja zwischenmenschliche Beziehungen nach wie vor wichtig.