Wirtschaftsumfeld | Argentinien | Wirtschaftsstruktur
Rosskur für Argentiniens Wirtschaft
Präsident Milei krempelt Politik und Wirtschaft um. Ziele sind weniger Staat, eine niedrige Inflation, ein ausgeglichener Haushalt und so viel Privatwirtschaft wie möglich.
30.07.2025
Von Stefanie Schmitt | Santiago de Chile
Die Argentinier waren die jahrelange Wirtschaftsmisere mit sinkenden Pro-Kopf-Einkommen, einer galoppierenden Inflation und einer überbordenden Korruption auf allen Ebenen der Institutionen leid. Deshalb wählten sie im November 2023 mit Javier Milei einen Präsidenten, der versprach "mit der Kettensäge" mit all dem Schluss zu machen.
Seitdem ist viel passiert, auch wenn manche Pläne wie die Abschaffung des argentinischen Peso zugunsten des US-Dollar (US$) als Landeswährung realistischerweise in der Schublade verschwanden. So wurde der aufgeblähte Staatsapparat deutlich verschlankt, Behörden abgeschafft, Staatsangestellte entlassen sowie zahlreiche Sozialausgaben und Subventionen etwa auf Strom, Benzin und Wasser gekürzt oder gestrichen.
Die argentinische Wirtschaft und Gesellschaft – und auch die Welt – beobachten mit Erstaunen, welche Maßnahmen der Präsident angesichts seiner bislang dünnen Basis im Abgeordnetenhaus und dem Senat bereits umgesetzt hat. Viele rechnen damit, dass sich das Reformtempo nach den Zwischenwahlen im Herbst 2025 verstärken wird, da sich die Mehrheitsverhältnisse zugunsten Mileis verschieben dürften. Denn eines ist klar: Der Handlungsbedarf ist gigantisch. Es ist weiter mit vielen Überraschungen zu rechnen. Doch schon in der Vergangenheit war in Argentinien nur erfolgreich, wer "krisengeprüft flexibel“ war.
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Wirtschaftsstütze und Devisenbringer Landwirtschaft
Ein zentraler Wirtschaftszweig ist die Landwirtschaft. Zwar entfallen entfallen auf den Sektor (einschließlich Forst- und Fischereiwirtschaft) laut Statistikamt INDEC nur 8,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), doch die Agrarwirtschaft ist hochproduktiv und zählt zu den wenigen international wettbewerbsfähigen Wirtschaftszweigen des Landes. Schätzungsweise ein Drittel aller Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt von ihr ab, einschließlich aller vor- und nachgeschalteter Branchen wie Agrarchemie, Maschinenbau, Transport, Handel etc.
Darüber hinaus gehört die Landwirtschaft zu den wichtigsten Devisenbringern und Steuerzahlern des Landes. Von den rund 80 Milliarden US$, die Argentinien 2024 an Gütern ins Ausland verkaufte, davon entfielen etwa die Hälfte auf landwirtschaftliche Produkte. Aufgrund hoher Abgaben wie Exportzöllen bleiben die Erzeuger jedoch hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Große Vorkommen an Lithium, Öl und Gas
Letzteres gilt auch für die Öl- und Gasbranche, die viele Jahre auf die Fertigstellung der Perito-Moreno-Pipeline (zuvor Néstor-Kirchner-Pipeline) von der Lagerstätte Vaca Muerta nach Salliqueló (Provinz Buenos Aires) warten musste. Immerhin wurde diese 2023 in Betrieb genommen. Zusätzliche Einnahmen werden sprudeln, wenn die geplante Pipeline nach Brasilien ans Netz geht. Das kann allerdings noch Jahre dauern. Jedoch könnte das Projekt schneller Fahrt aufnehmen, da Milei anders als seine peronistischen Vorgänger keine Berührungsängste hat, private Investoren mit an Bord zu holen.
Neben Öl- und Gasvorkommen verfügt Argentinien über die drittgrößten gesicherten Lithiumvorräte weltweit; bei der Förderung steht das Land an vierter Stelle. Bislang wird laut Bergbausekretariat an sechs Förderstätten Lithium abgebaut, 15 weitere befinden sich in Bau.
Industrie ist wenig wettbewerbsfähig
Im Gegensatz zur Landwirtschaft gilt die argentinische Industrie als wenig wettbewerbsfähig. Aufgrund der Devisenproblematik konnten viele Unternehmen nicht in dem Umfang moderne Maschinen und Anlagen aus dem Ausland erwerben, wie es notwendig gewesen wären, um auf dem Stand der Technik zu bleiben. Viele haben sich auch daran gewöhnt, in einem geschützten Markt mit wenig Wettbewerb zu agieren. Nicht grundlos belegt Argentinien beim Index of Economic Freedom der Heritage Foundation 2025 lediglich Rang 124 von 184 Ländern (allerdings 2023 noch Rang 144!).
Nachholpotenzial in vielen Bereichen
Beim Global Innovation Index 2024 lag Argentinien auf Rang 76 von 134 Ländern. Auch hier ist noch viel Luft nach oben, obwohl Argentinien beispielsweise über eine sehr lebendige Start-up-Szene verfügt. Aus diesem Grund eröffnete German Accelerator 2023 seine erste Niederlassung in Lateinamerika in Buenos Aires.
Doch generell besteht großer Nachholbedarf bei der Produktivität etwa mit Blick auf Automatisierung/Digitalisierung/Industrie 4.0. Auch beim Umgang mit Wasser und Energie ist das Einsparpotenzial hoch. Hier können sich mit der Aufhebung der Subventionen neue Chancen für deutsche Umwelttechnik entwickeln.
Das große Sammelbecken der argentinischen Wirtschaft stellt der weitgefächerte Dienstleistungssektor dar. Er umfasst den aufgeblähten Staatsapparat genauso wie die kreative IT-Branche. Milei setzt speziell auf den Ausbau des Landes zum Digitalisierungs- und KI-Hub – und sucht dabei nicht zuletzt den Schulterschluss mit Elon Musk.
Sektoren | Anteil an der Bruttowertschöpfung | Anteil an den Beschäftigten *) |
---|---|---|
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei | 8,8 | 6,6 |
Bergbau, Energie- und Wasserversorgung | 6,9 | 1,1 |
Verarbeitendes Gewerbe | 18,3 | 10,8 |
Baugewerbe | 3,2 | 8,5 |
Handel und Transport | 24,4 | 22,7 |
Andere Dienstleistungen | 38,4 | 50,3 |
Hoffnungsträger Lithium für Argentiniens Nordprovinzen
Traditionell ist Argentinien von großen regionalen Unterschieden geprägt. Abgesehen von der Hauptstadtregion Buenos Aires zählte bisher vor allem der an Rohstoffen reiche Süden zu den wirtschaftlich bevorzugten Landesteilen. Künftig dürften insbesondere die lithiumreichen Nordprovinzen Jujuy, Salta und Catamarca aufholen. Allein in den Abbau und die Verarbeitung von Lithium sollen in den nächsten Jahren dort laut BNamericas schätzungsweise 7 Milliarden US$ investiert werden, begleitet von notwendigen Ausgaben in den Ausbau der Infrastruktur, die auch anderen Branchen zugutekommen werden.