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Markets International 1/25 I Branchen I Chemieindustrie

Zwischen Krise und Neuerfindung

Bei der Erreichung der Klimaziele spielt die Chemiebranche eine entscheidende Rolle. Doch wegen der aktuellen Herausforderungen ­müssen die Unternehmen große Anstrengungen leisten, um die Balance zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit herzustellen.

Von Charlotte Hoffmann | Bonn

Mitten im Ruhrgebiet, südlich von Herne, liegt das Evonik-Werk Herne/Witten. Hier treffen Tradition und Innovation aufeinander. Auf dem Werksgelände steht der Schacht zwei der stillgelegten Zeche Hannibal. Noch bis Mitte der 1960er-Jahre wurde hier Steinkohle abgebaut. Heute finden Ruhrgebietsliebhaber in den denkmalgeschützten Gebäuden festlich geschmückte Veranstaltungsräume vor. Doch das ist erst der Anfang: Bis 2025 will Evonik an diesem Standort eine grüne Wasserstoffproduktion testen und verwandelt dazu die ehemalige Zeche in ein Symbol für die Energiewende – aus Hannibal wird Hannibal.

Markets International Ausgabe 1/25

Markets International 02/24 Markets International 02/24 | © GTAI

Dieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift Markets International, Ausgabe 1/2025 mit dem Schwerpunkt Robotik. Erfahren Sie, welche weiteren Beiträge die Ausgabe für Sie bereit hält.

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Gefragte Ressource: Wasserstoff

Wasserstoff, davon benötigt der Chemieriese in Herne große Mengen. Auf rund 250.000 Quadratmetern betreibt das Unternehmen dort seit mehr als 50 Jahren eine seiner weltweit größten Anlagen zur Produktion von Isophoron. Dieser chemische Stoff spielt eine zentrale Rolle bei der Herstellung von Crosslinkern, also Vernetzern. Crosslinker machen Autolacke kratzfest, schützen Brücken vor Korrosion und verstärken Rotorblätter von Windkraftanlagen, damit sie extremen Wetterbedingungen standhalten.

Den Wasserstoff benötigt Evonik als Ausgangsstoff für die Isophoronproduktion, der bislang in grauer Form über Pipelines auf das Werkgelände geleitet wird. Künftig spaltet der Elektrolyseur auf Hannibal mit grünem Strom Wasser in Wasser- und Sauerstoff. Bis zu 45 Prozent des Bedarfs an Wasserstoff kann die Anlage decken. Jährlich liegt die Einsparung laut Evonik bei 12.000 Tonnen CO2 – das ist fast die Hälfte der CO2-Emissionen des gesamten Werks. 

Evonik erzeugt nachhaltig grünen ­Wasserstoff für die ­Produktion

 

Projekt H₂annibal: Noch bis Mitte des Jahres testet der Chemikonzern Evonik am Standort Herne eine neuartige Elektrolysetechnologie zur Produktion von grünem Wasserstoff. Projekt H₂annibal: Noch bis Mitte des Jahres testet der Chemikonzern Evonik am Standort Herne eine neuartige Elektrolysetechnologie zur Produktion von grünem Wasserstoff. | © picture alliance/dpa/Fabian Strauch

Rund zehn Megawatt Strom zieht der Standort Herne von Evonik in Spitzenzeiten. Hier wird schon seit Jahrzehnten Isophoron hergestellt, ein Produkt, das auch in der Produktion von Windkraftanlagen verwendet wird. Insgesamt könnte Evonik jährlich 26.600 Tonnen CO2 einsparen: Neben der Nutzung von Prozesswärme und einer höheren Recyclingquote spielt grüner Wasserstoff dabei eine Schlüsselrolle. In der nahegelegenen alten Zeche Hannibal spaltet der Elektrolyseur mit Strom aus erneuerbaren Quellen Wasser in Wasser- und Sauerstoff. Dieser soll rund 45 Prozent des Wasserstoff- sowie 100 Prozent des Sauerstoffbedarfs decken. Das Einsparpotenzial liegt bei 12.000 Tonnen CO2.

 

 

Fossile Rohstoffe im Fokus

Das Beispiel Evonik zeigt: Kaum eine andere Branche hat einen derart großen Einfluss auf das Erreichen der Klimaziele in Deutschland wie die Chemieindustrie. Gleich in mehrererlei Hinsicht können die Unternehmen helfen, die öklogische Bilanz zu verbessern: beim Rohstoffeinsatz, bei der Wahl ihrer Quellen zur Energieversorgung und beim Recyclen von Produkten, deren Bestandteile erneut in ihrem Produktionskreislauf landen. 

Wie sehr die Chemieunternehmen von fossilen Rohstoffen abhängen, zeigt auch ein Branchenvergleich sehr deutlich: Mehr als ein Viertel des industriellen Energieverbrauchs in Deutschland entfällt laut Statistischem Bundesamt auf die Chemieproduktion – noch mehr als bei der Produktion von Stahl oder der Mineralölverarbeitung. Hinzu kommt: Mehr als ein Drittel des gesamten in Deutschland verbrauchten Erdgases beansprucht die Chemieindustrie. 

Und Kohlenstoff, ein Grundbaustein vieler chemischer Produkte, wurde in der Vergangenheit vor allem aus fossilen Quellen gewonnen. Neue Prozesse machen es aber nun möglich, dass er auch aus alternativen Quellen wie Biomasse, recycelten Abfällen oder sogar dem klimaschädlichen CO2 gewonnen werden kann. Letzteres wird bereits vom Chemieunternehmen Covestro in mehreren Anlagen weltweit angewendet. Rund 50 Prozent fossiler Rohstoffe lassen sich so bei der Produktion von Kunststoff laut Covestro bereits einsparen. 

Herausforderungen für den Standort

Grüner Wasserstoff bei Evonik und Kohlenstoff aus Abfällen und CO2 bei Covestro sind nur zwei Entwicklungen, die zeigen, dass die deutsche Chemieindustrie mitten im Transformationsprozess steckt – und gleichzeitig in einer Krise. Von der Coronapandemie hat sich die Branche nie gänzlich erholt. Seitdem treten immer wieder neue Probleme auf: Abnehmerbranchen in ganz Europa schwächeln, die Kaufzurückhaltung nimmt zu. Gestiegene Energiekosten in ganz Europa aufgrund des Ukrainekriegs verringern darüber hinaus die Margen.

Ende 2024 ist die Stimmung auf dem vorläufigen Tiefpunkt angelangt. Für das Gesamtjahr erwartet der Verband Chemische Industrie (VCI) ein Umsatzminus von zwei Prozent. Auch die Produktion kassierte einen deutlichen Dämpfer, die Kapazitätsauslastung lag weiterhin unter der Rentabilitätsschwelle. „Wir spüren die Schwächephase“, so Matthias Belitz vom VCI. „Die Gründe hierfür sind unterschiedlich, haben aber zumeist einen strukturellen Ursprung und lassen sich auf die wenig attraktiven Standortbedingungen in Deutschland zurückführen.“ Konkret bedeutet das: Laut einer aktuellen VCI-Mitgliederumfrage im November 2024 rechnet mehr als die Hälfte der Unternehmen erst im Jahr 2026 oder sogar später mit einer Belebung der Nachfrage. Gleichzeitig ist klar: „Die Unternehmen wollen, ja müssen sich transformieren“, erklärt Belitz. 

CHT Germany recycelt Silikone für die Haarpflege

Kreislaufwirtschaft voran­treiben: Recycelte Pflege fürs Haar Kreislaufwirtschaft voran­treiben: Recycelte Pflege fürs Haar | © AdobeStock/Pixel-Shot

Silikone, die in Haarpflegeprodukten wie Shampoos oder Conditionern für Glanz und Geschmeidigkeit sorgen, werden traditionell aus Quarzsand gewonnen. Doch CHT Germany geht einen anderen Weg: Für die Herstellung des Silikons Beausil RE-AMO 919 EM nutzt das Tübinger Unternehmen neben Zucker überwiegend recycelte Silikonabfälle. Überschüssige Silikonöle und Rückstände aus anderen Industrien werden hierfür gesammelt, gereinigt und in einem speziellen Verfahren chemisch aufbereitet, um ihre ursprünglichen Eigenschaften wiederherzustellen. Das Waste-to-Value-Verfahren stärkt nicht nur die Kreislaufwirtschaft und mindert den Verbrauch von fossilen Rohstoffen, sondern hinterlässt auch einen geringeren CO2-Abdruck.

 

 

Denn nur so kann Klimaneutralität erreicht und sich der Chemiestandort Deutschland gegen große Wettbewerber, etwa aus den USA oder aus China, durchsetzen. Mit der Wiederwahl Donald Trumps wird die Rückkehr zur protektionistischen Handelspolitik ab diesem Jahr noch wahrscheinlicher. Der US-amerikanische Inflation Reduction Act hat bereits ungleiche Wettbewerbsbedingungen geschaffen, bietet Subventionen und Steueranreize für Investitionen in erneuerbare Energien und grüne Technologien in den USA. „Flucht nach vorn“ heißt es in der Studie „Transformationspfade für das Industrieland Deutschland“ des Bundesverbands der Deutschen Industrie e. V. in Bezug auf die deutsche Chemieindustrie. Konkret bedeute das: Neuordnung von Wertschöpfungsketten, Elektrifizierung sowie Nutzung biogener und recycelter Kohlenstoffe. 

Die Notwendigkeit ist klar, die Vorteile, die sich daraus für die Branche ergeben, ebenfalls: Dank nachhaltiger Technologien besteht die Möglichkeit für die deutsche Chemieindustrie, erneut eine Vorreiterrolle einzunehmen und ihre Wettbewerbs- und Exportfähigkeit langfristig zu sichern. Von einer transformierten Chemieindustrie würde außerdem die gesamte deutsche Wirtschaft profitieren.

Wie alle Branchen befindet sich die Chemieindustrie in Krisenzeiten in einem Spannungsfeld: Einerseits müssen die Unternehmen Projekte priorisieren, andererseits müssen sie die Dynamik für Veränderungen weiter hochhalten. „Die Transformation Richtung Klimaneutralität kommt aber keinesfalls zum Erliegen“, so Belitz. Es gibt eine große Spannbreite konkreter Maßnahmen, denn allein mit der Elektrifizierung der Prozesse und dem Anschluss an erneuerbare Energien kann die Branche nicht klimaneutral werden, erklärt er. „Es gibt keinen Königsweg, sondern individuelle Maßnahmen, die von einer Vielzahl von Elementen, wie den Gegebenheiten vor Ort und dem Produktportfolio abhängig sind.“

Das schaffe die Chemieindustrie aber nicht allein, so Belitz. Die Politik spiele eine zentrale Rolle bei der Regulatorik von zukunftsweisenden Technologien, aber auch beim notwendigen Ausbau der Energieinfrastruktur und einem gleichzeitigen Abbau der Bürokratie. 

Covestro nutzt CO2 als umweltverträglichen Rohstoff in der Kunststoffproduktion

Reycling von Kohlendioxid: Anteilig kann Covestro nun bis zu 50 Prozent fossile Rohstoffe in den Produkten ersetzen. Reycling von Kohlendioxid: Anteilig kann Covestro nun bis zu 50 Prozent fossile Rohstoffe in den Produkten ersetzen. | © Covestro AG

Covestro macht aus einem Klimaproblem eine Ressource: Der Kunststoffhersteller aus dem nordrhein-westfälischen Dormagen nutzt CO2 aus Industriegasen bei der Herstellung von Polycarbonaten und Isocyanaten. Beides sind Kunststoffklassen, die sich in vielen verschiedenen Produkten wiederfinden – ob in Autokarosserien, Kühlgeräten oder Matratzen. 

Bei der Herstellung ersetzt Covestro Kohlenmonoxid durch Kohlendioxid und kann so bei der Produktion bis zu 50 Prozent an fossilen Rohstoffen, üblicherweise Erdöl, einsparen. 

Ein Nebeneffekt: Durch die Weiterverwertung des CO2 in der Wertschöpfungskette treibt das Verfahren die Kreislaufwirtschaft an. 

Klimaneutralität zahlt sich aus

Das sich Unternehmen trotz angespannter Lage nicht vom Ziel, Klimaneutralität zu erreichen, abbringen lassen, zeigt beispielsweise Covestro. Für alle drei Standorte am Niederrhein, die für ein Drittel der Treibhausgasemissionen des Konzerns verantwortlich sind, hat das Unternehmen zuletzt einen Aktionsplan vorgestellt. Dieser soll das Unternehmen auf dem Weg begleiten, bis 2035 klimaneutral bei der eigenen Produktion, aber auch bei externen Energiequellen zu sein. „Wir stärken damit langfristig die Wettbewerbsfähigkeit unserer Standorte – weltweit“, sagt Klaus Schäfer, Chief Technology Officer bei Covestro. 

Mehr zum Thema

Onlineplattform

Das steht drin: Neben Leitlinien zur nachhaltigen Entwicklung in der Chemieindustrie bietet Chemie³ regelmäßig Webinare zu Grundlagen des nachhaltigen Wirtschaftens an.

Wichtig, weil die von der chemischen Industrie gegründete Plattform den Austausch von Wissen fördert und Best Practises präsentiert.

 

Interaktive karte

Das steht drin: Listet Investitionen und Projekte zur Förderung von CO₂-armen Technologien auf. Es geht um Projekte zur Emissionsreduktion und zur Nutzung erneuerbarer Energien. 

Wichtig, weil die Projekte die Klimaziele der EU unterstützen und den Übergang zu einer nachhaltigen Industrie fördern.

 

Gründerberatung

Das steht drin: Die unabhängige Initiative Science 4 Life bietet seit 1998 Gründerberatung und -betreuung, Weiterbildung sowie Wettbewerbe in den Bereichen Life Sciences, Chemie und Energie. 

Wichtig, weil Science 4 Life die Förderung von Innovationen und Start-ups in diesen Branchen unterstützt.

 

 

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