Branchen | Vereinigtes Königreich | Chemische Industrie
Branchenstruktur
Die Dekarbonisierung der Industrie eröffnet Chemieherstellern einen neuen Wachstumsmarkt. Bei UK REACH kündigt die Regierung eine Fristverlängerung an.
05.05.2023
Von Marc Lehnfeld | London
Britische Chemiebranche sichert eine halbe Million Arbeitsplätze
Die Chemiewirtschaft im Vereinigten Königreich zählt laut dem Branchenverband Chemical Industries Association mehr als 4.400 Unternehmen mit 151.000 Beschäftigten und indirekt rund 500.000 abhängigen Arbeitsplätzen. Etwa 7 Prozent des Umsatzes der britischen Industrie entfiel 2020 auf die Chemieindustrie, so die Daten des britischen Statistikamts. Den größten Umsatzanteil der Branche generierte die Herstellung von Basischemikalien, vor allem Kunststoffe in Primärform, sowie die Herstellung von Seifen und Reinigungsmitteln.
Neue Investitionen der Branche zielen unter anderem auf die Dekarbonisierung der Industrie. So haben sich die britischen Chemieunternehmen verpflichtet, ihre CO₂-Emissionen bis 2034 um 50 Prozent zu reduzieren. Entlang des allgemeinen Dekarbonisierungspfads der Industrie wollen die Chemiehersteller ihre Emissionen bis 2050 gar um 90 Prozent gegenüber dem Basisjahr 2018 senken. Dabei sind nicht alle Produzenten gleich stark gefordert. So zählen vor allem die Industriegashersteller und die Petrochemie zu den CO₂-intensivsten Zweigen der britischen Industrie, während Reinigungsmittel- und Farbenproduzenten bereits vergleichsweise CO₂-arme Emissionen aufweisen.
Sparte / Herstellung von | 2022 1) | Veränderung 2022/20212) | Marktanteil 3) |
---|---|---|---|
Industriegasen | 1.125 | 38,1 | 5,4 |
Farbstoffen und Pigmenten | 1.406 | -1,3 | 6,8 |
sonstigen anorganischen Grundstoffen und Chemikalien | 2.056 | 24,4 | 9,9 |
sonstigen organischen Grundstoffen und Chemikalien | 2.974 | 5,6 | 14,3 |
Düngemitteln und Stickstoffverbindungen | 2.427 | 36 | 11,7 |
Kunststoffen in Primärform | 6.196 | 12,7 | 29,8 |
Schädlingsbekämpfung- und Pflanzenschutzmitteln | 821 | -2 | 3,9 |
Anstrichmitteln und Druckfarben | 3.800 | -15,8 | 18,3 |
Insgesamt | 20.805 | 7,6 | 100 |
Dekarbonisierung der Industrie lockt Chemieriesen
Der strategische Nutzen von Technologien rund um die CO₂-Abscheidung und -Speicherung (CCS) zur Dekarbonisierung der gesamten britischen Industrie lockt auch die großen Chemieunternehmen in einen neuen Wachstumsmarkt. Zu ihnen gehört unter anderem der weltweit größte Hersteller von Katalysatoren und Spezialchemieproduzent Johnson Matthey. Das Batteriematerialien-Geschäft hat der Konzern zwar wegen schwacher Rendite und eines hohen Investitionsbedarfs veräußert, dafür setzt das Unternehmen nun auch auf CO₂-Abscheidung und Wasserstoff.
Mitte März 2023 gab Johnson Matthey bekannt, als Technologielieferant für das CCS-Projekt H2H Saltend ausgewählt worden zu sein. Das Unternehmen kämpft nicht nur mit hohen Energiepreisen, sondern muss angesichts der geplanten Verkaufsverbote für Verbrenner ab 2030 auf der britischen Insel und entsprechenden Plänen in der Europäischen Union (EU) neue Schwerpunkte finden. Ob die Ausnahmeregelung für E-Fuels in der EU die Lage verändert, ist noch nicht klar.
Unternehmen | Umsatz 2022 1), 2) | Veränderung 2022/20213) | Sparte |
---|---|---|---|
Ineos Group Holdings S.A. | 20.927 | 11,2 | Petrochemie, Spezialchemie, Ölprodukte |
Johnson Matthey Plc 4) | 17.511 | 6,8 | Spezialchemie |
AkzoNobel N.V. | 10.846 | 13,1 | Farben, Spezialchemie |
Synthomer Plc | 2.803 | 11,5 | Spezialchemie |
Croda International Plc 5) | 2.450 | 10,6 | Spezialchemie |
Boc Ltd (Tochterunternehmen von Linde Plc) | 1.283 | 17,2 | Industriegase |
BASF Plc | 1.196 | 16,6 | Chemikalien, Kunststoffe |
Elementis Plc | 699 | 3,8 | Spezialchemie |
Ensus UK Ltd 5) (Tochterunternehmen von Südzucker AG) | 390 | 32,0 | unter anderem Bioethanol-Kraftstoff |
Synthite Ltd | 88 | 31,9 | Grundchemikalien |
Auch das Petrochemieunternehmen Ineos, das die petrochemische Sparte von BP übernommen hat, investiert in CO₂-arme Technologien. So sollen umgerechnet rund 1,1 Milliarden Euro in die Wasserstoffproduktion fließen, die die Raffinerie des Petroineos-Joint Ventures im schottischen Grangemouth betreiben soll.
Das schottische Chemiecluster Grangemouth gehört zu den größten britischen Chemiestandorten, profitiert aber noch nicht von den CCS-Bestrebungen der Regierungen. So wurde die Region im CCS-Clusterprogramm nur als Reserve ausgewählt. Im anstehenden Auswahlprozess für das dritte und vierte Cluster könnte Grangemouth aber zum Zuge kommen. Im Kern des Clusters steht das Acorn Projekt zur CO₂-Abscheidung, dem Transport und der Endlagerung in einem Unterseespeicher. Die technische Machbarkeit für die CO₂-Speicherung konnte Ineos in einem Pilotprojekt in der dänischen Nordsee nachweisen, wie das Unternehmen Anfang März 2023 bekannt gab.
Grangemouth ist über eine Ethylen-Pipeline mit den Chemieclustern Chemicals Northwest in Nordwestengland und dem North East of England Process Industry Cluster (einschließlich des Chemieparks Wilton International) in Teesside verbunden. Ein weiteres nennenswertes Cluster ist die Region Humber mit der Initiative Catch und dem Saltend Chemical Park.
Handel mit Deutschland weiterhin relevant
Zu den großen ausländischen Chemieunternehmen auf der britischen Insel zählen auch deutsche Firmen wie zum Beispiel BASF, Beiersdorf, Bayer CropScience, Evonik, Henkel, Lanxess oder der Chemiegroßhändler Brenntag. Der globale Industriegasmarktführer Linde plc mit Sitz in Irland ist über seine Tochtergesellschaft BOC im Königreich tätig.
Produktkategorie 1) | Importvolumen (in Mio. Euro) 2) | Veränderung 2022/ 2021 (in %) | Anteil Deutschlands (in %) | Veränderung der deutschen Importe 2022/2021 (in %) |
---|---|---|---|---|
Chemische Erzeugnisse, gesamt, davon | 89.229 | 26,7 | 12,2 | 14,8 |
51 Organische chemische Erzeugnisse | 14.789 | 42,0 | 7,9 | 6,5 |
52 Anorganische chemische Erzeugnisse | 3.991 | 56,1 | 12,1 | 26,9 |
53 Farben und Lacke | 2.064 | 13,3 | 19,9 | -8,4 |
54 Arzneimittel | 31.972 | 35,7 | 12,6 | 37,9 |
55 Waschmittel/Kosmetika | 8.814 | 20,7 | 10,0 | 15,1 |
56 Düngemittel | 2.451 | 128,5 | 8,5 | 127,0 |
57 Kunststoffe (Primärform) | 8.734 | 21,3 | 16,2 | -10,3 |
58 Kunststoffe (Halbwaren) | 5.376 | 24,5 | 18,8 | 8,4 |
59 Andere chemische Erzeugnisse | 11.037 | -9,1 | 11,3 | 0,7 |
Übergangsregelungen für das UK-REACH-Regime werden verlängert
Im regulatorischen Übergangsprozess des EU-REACH-Regimes zum UK-REACH-Regime rückt eine Verlängerung der Fristen in greifbare Nähe. Nach den aktuell geltenden Regeln werden die UK-REACH-Anmeldungen nach Risikogruppen in Zweijahresschritten in 2023, 2025 und 2027 fällig.
Das zuständige Department for Environment Food and Rural Affairs (Defra) hat die branchenweite Kritik an den kurzen Fristen und dem hohen bürokratischen Aufwand zum Anlass genommen, Branchenvertreter zu verschiedenen Verlängerungsoptionen anzuhören. Die im Winter 2022 veröffentlichten Konsultationsergebnisse ergaben, dass 82 Prozent der Vertreter eine Fristverlängerung um jeweils drei Jahre favorisieren.
Diesem Ergebnis will Defra nun folgen und gab bekannt, die entsprechende Fristanpassung mit den Regionalregierungen von Wales und Schottland abzustimmen. Die Verlängerung gilt damit als gesichert, ist aber noch nicht formell besiegelt. Der Vorgang zeigt, wie schwer die von der britischen Regierung proklamierte Abwendung von EU-Standards ist. Wie bei den Übergangsregelungen zum CE-Kennzeichnen sorgen die Fristverlängerungen zwar für Erleichterungen bei den Unternehmen. Dennoch bleibt die Unsicherheit über den zukünftigen regulatorischen Weg des Königreichs.