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Branchen | Vereinigtes Königreich | Chemische Industrie

Britische Chemieindustrie in schwierigem Fahrwasser

Eine rasche Entspannung ist nicht in Sicht. Kopfschmerzen bereiten der Branche nicht nur die aktuellen globalen Herausforderungen, sondern auch Sondereffekte im Land.

Von Charlotte Hoffmann | Bonn

Die Produktion der britischen Chemieindustrie ist 2022 um 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen. Auch für das aktuelle Jahr sind die Aussichten trüb. In den ersten sechs Monaten 2023 ist die Produktion von Chemikalien und chemischen Erzeugnissen im Vergleich zu den Vorjahresmonaten nach Angaben des britischen Statistikamts ONS durchschnittlich um 9,3 Prozent zurückgegangen. 

Für das Gesamtjahr 2023 erwarten die Ökonomen von Oxford Economics einen Produktionseinbruch von 5,8 Prozent. Zum Vergleich: Die Produktion im verarbeitende Gewerbe soll 2023 insgesamt nur um 0,5 Prozent schrumpfen.

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Der Abwärtstrend zeigt sich auch im Handel. Rund 90 Prozent der britischen Chemieproduktion gehen in den Export. Während der Warenhandel 2022 noch ein Plus verzeichnete, sanken die Ein- und Ausfuhren von Chemikalien und chemischen Erzeugnissen in den ersten zwei Quartalen 2023. Die Statistiken decken sich mit einer aktuellen Umfrage des Branchenverbands CIA. Rund 60 Prozent der befragten Unternehmen sahen im 2. Quartal 2023 einen Umsatzrückgang. Im 1. Quartal waren es noch 33 Prozent.

Wettbewerbsfähigkeit der Branche gefährdet

Zusätzlich zu den globalen Problemen der Chemieindustrie und der schlechten konjunkturellen Wirtschaftslage des Landes kämpft die britische Chemieindustrie mit weiteren Sondereffekten. Diese bedrohen zunehmend auch die Wettbewerbsfähigkeit der Branche gegenüber Wettbewerbern aus Europa, Asien und Nordamerika.

So herrscht zwei Jahre nach dem Brexit weiter Unsicherheit über die Implementierung der britischen Chemikalienregulierung UK REACH. Die vollständige Registrierung wurde zwar weiter verschoben. Unternehmen haben nun bis Oktober 2026, 2028 beziehungsweise 2030 Zeit, das neue Verfahren zur Überführung der EU-Registrierung in das neue britische System abzuschließen. Die britische Chemiebranche setzt sich weiter für eine pragmatische Umsetzung von UK REACH ein. Zudem fordert der Verband konkretere Regierungspläne für weitere Zukunftsthemen wie den Ausbau der Wasserstoffkapazität und die Nutzung fortschrittlicher Kreislauftechnologien sowie die Umsetzung einer britischen Chemiestrategie.

"Damit die britische Chemieindustrie und deren Lieferkette wachsen und wettbewerbsfähiger werden kann, ist eine pragmatische Umsetzung von UK REACH von entscheidender Bedeutung." Mike Lancaster, Leiter Innovation und Veranstaltungen, CIA

Laut einer aktuellen Studie der Resolution Foundation, einem britischen Thinktank, steht der britische Fertigungssektor mit der Chemieindustrie als eines seiner Kernstücke vor einem strukturellen Wandel. Grund sei die hohe Integrität in EU-Lieferketten, die in Folge des Brexits zu einer Verkleinerung des Fertigungssektors führen würde. Bereits jetzt sei diese Entwicklung spürbar: Laut Resolution Foundation lagen die chemischen Exporte Ende 2022 nur 2 Prozent über dem Vor-Brexit-Level. In der EU hingegen stiegen die Exporte in diesem Bereich im gleichen Zeitraum um rund 25 Prozent.

Wichtige Branchenunternehmen im Vereinigten Königreich

Unternehmen

Umsatz 2022 (in Mio. Euro) 1, 2)

Veränderung 2022/2021 in % 3)

Sparte

Ineos Group Holdings S.A.

20.927

11,2

Petrochemie, Spezialchemie, Ölprodukte
Johnson Matthey Plc 4)

17.511

-6,8

Spezialchemie
AkzoNobel N.V. 

10.846

13,1

Farben, Spezialchemie
Synthomer Plc

2.796

11,2

Spezialchemie
Croda International Plc 

2.450

10,5

Spezialchemie
BASF Plc

1.196

16,6

Chemikalien, Kunststoffe
Boc Ltd  (Tochterunternehmen von Linde Plc) 5)

796

19,6

Industriegase
Elementis Plc 

699 

3,8

Spezialchemie
Ensus UK Ltd ​​​​​​
(Tochterunternehmen von Südzucker AG) 6)

293

48,2

unter anderem Bioethanol-Kraftstoff
Synthite Ltd 5)

66

29,5

Grundchemikalien
1 Globaler Umsatz; 2 Bundesbank-Wechselkurs 2022: 1 Euro = 0,85276 Pfund Sterling (£); 2021: 1 Euro = 0,85960 £; 3 Veränderung auf Basis der Landeswährung; 4 Geschäftsjahr endend 31. März 2023; 5 Geschäftsjahr 2021; 6 Geschäftsjahr endend 28 Februar 2022.Quelle: Recherchen von Germany Trade & Invest 2023

Erholung nur langsam in Sicht

"Es ist unwahrscheinlich, dass sich die schwierigen Bedingungen der Chemieindustrie zeitnah entspannen werden", betont Steve Elliot, Geschäftsführer des Branchenverbands CIA. Ein Aufschwung wird erst im kommenden Jahr erwartet. Die Experten von Oxford Economics prognostizieren, dass die Produktion 2024 um 1,5 Prozent zulegen wird. Auch wenn Produktionskosten durch sinkende Energiepreise zurückgingen, sähen sich die britischen Unternehmen weiterhin mit einer schwachen Nachfrage und steigenden Lohnkosten konfrontiert, so Elliot.

Das kühle Geschäftsklima unterstreicht die gesamtwirtschaftliche Situation des Landes. Diese schwächelt unter der anhaltend hohen Inflationsrate und mageren Wachstumsaussichten. Laut Internationalem Währungsfonds soll das britische Bruttoinlandsprodukt 2023 gerade einmal um real 0,4 Prozent zulegen. Mit 5,25 Prozent hat das Vereinigte Königreich aktuell den höchsten Leitzins unter den G7-Staaten.

CCUS und Wasserstoff als Hoffnungsschimmer

Die Dekarbonisierung der Industrie bleibt die Hoffnung der Chemieindustrie auf neue Marktchancen. Rund um die Produktion von grünem und blauem Wasserstoff entstehen neue Projekte, um das gesteckte Ziel von 10 Gigawatt Produktionskapazität bis 2030 zu erreichen. Die Regierung rund um Premierminister Sunak setzt außerdem auf die Abscheidung, Nutzung und Speicherung von CO₂ (CCUS). In der Nordsee sollen ehemalige Erdöl- und Erdgasfelder als CO₂-Speicher umfunktioniert werden. Das Potenzial ist groß. Regulatorisch gibt es allerdings noch Hürden.

Die Ankündigung von Premierminister Sunak, beim Thema Klimaschutz auf die Bremse zu treten, sorgt in der Chemieindustrie für Kritik. Sunak will unter anderem das Verbrenner-Aus um weitere fünf Jahre nach hinten verschieben. "Die anhaltende politische Unsicherheit und Verzögerung der Klimaschutzziele tragen nicht dazu bei, dringend benötigte Investitionen in die Umsetzung des Netto-Null-Ziels zu fördern", erklärt Elliot.

Ausgewählte Investitionsprojekte der chemischen Industrie im Vereinigten Königreich
Akteur/Projekt

Investitionssumme (in Mio. Euro)

ProjektstandAnmerkungen
Tata Group (indischer Mischkonzern), London

4.600

Geplanter Produktionsstart: 2026Bau einer neuen Batteriezellen-Gigafabrik in Somerset. Geplante Kapazität: 40 Gigawattstunden
Centrica Plc; Rough in Nordostengland

2.320

In PlanungDas Unternehmen plant die Umwandlung ihrer stillgelegten Offshore Naturgas Lagereinrichtung zur Speicherung von Methan- und Wasserstoff 
Wasserstoffproduktions-Hubs; Vertex Hydrogen Ltd., Joint Venture: Essar Oil (UK)/Progressive Energy, Stanlow Refinery, Cheshire

1.160

HPP1 Produktionsstart: 2026Erste Phase (HPP1) kohlenstoffarme Wasserstoffproduktion (350 MW pro Jahr) mit CO₂-Abscheidung und -Speicherung (600.000 Tonnen pro Jahr); eine weitere Einrichtung zur Wasserstoffproduktion (HPP2), (700 MW pro Jahr) soll zu einem späteren Zeitpunkt folgen
Fulcrum NorthPoint; Kooperationspartner: Essar Oil (UK), Fulcrum Bioenergy und Stanlow Terminals (Sub-Unternehmen von Essar), in Stanlow, Cheshire

696

Geplante Inbetriebnahme: 1. Quartal 2027Neue Anlage zur Herstellung von Flugzeugtreibstoff aus Abfall; Ertrag zirka 100 Mio. Liter pro Jahr
Lithium Refinery; PD Ports, Teesside, Green Lithium Refining Limited

696

Baugenehmigung im Juli 2023 erhalten. Geplante Fertigstellung: 2027Bau einer neuen Raffinerie. Die Anlage soll jährlich zirka 50.000 Tonnen kohlenstoffarme Lithiumchemikalien in Batteriequalität herstellen
Essar Oil UK Limited; Stanlow, Cheshire

418

Im November 2022 angekündigt. Geplante Inbetriebnahme: 2027Bau einer neuen CO2-Abscheidungsanlage
Carbon Capture Project; Prax Lindsey Oil Refinery, North Lincolnshire

348

In PlanungCO2-Abscheidungsprojekt. Ab 2028 sollen 1 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr entfernt werden
Redcar Energy Centre; Redcar Holdings Ltd. (Joint Venture: PMAC Energy Ltd./Low Carbon Investment Ltd.), Redcar Bulk Terminal in Teesside

348

Geplante Fertigstellung: Anfang 2027Bau einer neuen EfW-Anlage; Kapazität zirka 450.000 Tonnen Abfall pro Jahr. Zusätzlich soll eine CO₂-Abscheidungsanlage gebaut werden
Equinor; Wasserstoffanlage; Hydrogen to Humber Saltend (H2H Saltend), Saltend Chemicals Park in Hull

k.A.

Geplanter Produktionsstart: 2027Bau einer neuen 600- Megawatt Wasserstoffproduktionsanlage mit Kohlenstoffabscheidung. Kooperationspartner Linde Engineering und BOC Limited
Acorn CCS and Hydrogen; Kooperationspartner: Storrega, Shell U.K. Ltd., Harbour Energy, North Sea Midstream Partners

k.A.

Durchführung des Projekts zurzeit unklarProjekt zur CO₂-Abscheidung und -Speicherung und Wasserstoffproduktion
Quelle: Recherchen von Germany Trade & Invest 2023

Forschung und Entwicklung profitiert von Horizon Europe

Anfang September 2023 gab die britische Regierung bekannt, dem EU-Forschungsförderungsrahmen Horizon wieder beizutreten. Auch wenn Forschungsprojekte bereits über den britischen Förderrahmen Innovate UK Fördermittel erhalten können, dürfte Forschung und Entwicklung in der Chemiebranche durch den Beitritt an Fahrt gewinnen. Über ein Fünftel der gesamten Investitionen des verarbeitenden Gewerbes in Forschung und Entwicklung fließt in die Chemieindustrie.

Durch viele Kooperationsmöglichkeiten mit Universitäten ist der Forschungs- und Entwicklungsbereich sehr gut aufgestellt. Auch branchenübergreifend finden viele Forschungskooperationen statt. Erst Anfang 2023 kündigte der deutsche Chemieriese BASF ein neues Industriekonsortium in Zusammenarbeit mit dem Imperial College in London zum Thema Flow Chemicals, einer modernen und effizienten Fertigungsmethode an.

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