Wirtschaftsausblick | Russland
Umbau zur Kriegswirtschaft dämpft den Abschwung
Der Rückgang der Wirtschaftsleistung fällt 2023 geringer aus als erwartet. Die Rüstungsproduktion hält die Industrie am Laufen. Die Umorientierung nach Asien ist in vollem Gange.
15.06.2023
Von Hans-Jürgen Wittmann | Moskau
Wirtschaftsentwicklung: Sanktionen immer deutlicher zu spüren
Im zweiten Jahr des Angriffskrieges gegen die Ukraine zeigen die mehr als 13.000 gegen Russland verhängten Sanktionen ihre Wirkung auf die lokale Wirtschaft. Das 11. Sanktionspaket der EU ist bereits in Arbeit. Im 1. Quartal 2023 ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 1,9 Prozent zurück, meldet das Statistikamt Rosstat. Aufgrund der niedrigen Basiswerte aus dem Vorjahr dürfte das Minus im Gesamtjahr geringer ausfallen. Die Weltbank rechnet für 2023 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent. Im Jahr 2022 sank das BIP um 2,1 Prozent.
Wirtschaftliche Entwicklung 2022 bis 2024 in Russland (reale Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent)
Indikator | 2022 | 2023 *) | 2024 *) |
---|---|---|---|
BIP | -2,1 | -0,2 | 1,2 |
Bruttoanlageinvestitionen | 5,2 | 1,1 | 1,5 |
Privatverbrauch | -1,8 | 0,4 | 1,1 |
Leistungsbilanzsaldo (in % des BIP) | 10,1 | 4,4 | 2,3 |
Die Haushaltslage des Staates verschlechtert sich. Die Exporte von fossilen Energieträgern spülen wegen des Ölpreisdeckels der G7-Staaten deutlich weniger Geld in die Staatskasse als vor Kriegsbeginn. Zwischen Januar und Mai 2023 gingen die Steuer- und Exporteinnahmen aus der Förderung und der Ausfuhr von Öl und Gas um die Hälfte auf 36,6 Milliarden Euro zurück, meldet das Finanzministerium. Ende Mai wies der Staatshaushalt ein Defizit von 38,9 Milliarden Euro auf. Gegenüber den ersten fünf Monaten des Vorjahres nahm der Staat ein Fünftel weniger ein, gab aber ein Viertel mehr aus. Die Einnahmesituation verbessert sich in den kommenden Monaten etwas. Seit April 2023 steigt die Ausfuhrmenge von Rohöl wieder und die Preisnachlässe sinken.
Russland steht vor dem größten Arbeitskräftemangel seit Jahrzehnten. Die Mobilisierung und die Flucht von Männern im erwerbsfähigen Alter verschärfen den Fachkräftemangel. Im Dezember 2022 waren 1,3 Millionen Personen unter 35 Jahren weniger erwerbstätig als im Vorjahresmonat. Die Arbeitslosenquote lag im Mai 2023 mit 3,2 Prozent auf einem historischen Tiefpunkt. Russlands größter Autobauer AwtoWAZ will die Lücken in seiner Belegschaft mit Strafgefangenen schließen. Zudem steigt der Zustrom von Arbeitsmigranten. Im 1. Quartal 2023 reisten mit 1,3 Millionen rund doppelt so viele Personen aus Zentralasien nach Russland ein wie im Vorjahreszeitraum.
Wirtschaftliche Eckdaten Russlands
Indikator | 2021 | 2022 | Vergleichsdaten Deutschland 2022 |
---|---|---|---|
BIP (nominal, Mrd. Euro) | 1.503 | 1.472 | 3.870 |
BIP pro Kopf (Euro) | 10.325 | 10.171 | 46.401 |
Bevölkerung (Mio.) 1) | 143,4 | 143,1 | 83,4 |
Wechselkurs (Rubel je 1 Euro, Jahresdurchschnittskurs der EZB) 2) | 87,15 | 72,53 | - |
Investitionen: Staat pumpt Milliarden in Rüstungsbetriebe
Die staatlichen Ausgaben für die Rüstungsindustrie sind Wachstumstreiber Nummer eins. Das größte Flächenland wendet rund 375 Millionen Euro pro Tag für den Krieg auf. Im Jahr 2022 stiegen die Ausgaben für Militär und Verteidigung um rund ein Drittel auf 82 Milliarden Euro, was einem Anteil von 4 Prozent am BIP entspricht. Diese Ausgaben steigen 2023 weiter. Allein im Januar und Februar 2023 flossen 24,2 Milliarden Euro in den militärisch-industriellen Komplex – ein Plus von 282 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Ausländische Investoren meiden Russland hingegen und zogen bei ihrem Rückzug zwischen März 2022 und März 2023 rund 34,5 Milliarden Euro ab, meldet die Zentralbank. Infolge staatlicher Rückzugsbedingungen und Enteignungen verloren westliche Firmen 28,7 Milliarden Euro, berechnete der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew. Zudem fror Russland Vermögenswerte ausländischer Investoren von rund 3 Milliarden Euro ein, meldet Euroclear.
Information zur Validität russischer Daten
Russlands Wirtschaft wird intransparenter. Als Reaktion auf die westlichen Sanktionen geben Staat und Unternehmen immer weniger Daten preis:
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Konsum: Verbraucher verschieben Anschaffungen auf bessere Zeiten
Russlands Verbraucher schnallen den Gürtel enger. Im Jahr 2022 sank der Einzelhandelsumsatz um 1,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Für 2023 erwartet die Weltbank nur ein leichtes Plus von 0,4 Prozent.
Der Anstieg der Inflation schwächt sich etwas ab. Für das Jahr 2023 rechnet die Zentralbank mit einer Inflationsrate von bis zu 6,5 Prozent. Im Vorjahr legte der Verbraucherpreisindex um 11,9 Prozent zu. Rund zwei Drittel der kleinen und mittelständischen Unternehmen erhöhen deshalb 2023 die Löhne ihrer Angestellten, ergab eine Studie des Mittelstandsverbandes Opora Rossii.
Während die Preise weiter steigen, stagnieren die Einkommen. Im 1. Quartal 2023 gingen die Realeinkommen um 0,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurück, meldet Rosstat. Etwa 20 Millionen Menschen leben unterhalb des Existenzminimums von rund 180 Euro. Wohlhabende Russinnen und Russen transferieren ihre Ersparnisse dagegen ins Ausland. Im Jahr 2022 wurden rund 50 Milliarden Euro außer Landes geschafft.
Die Kreditvergabe wächst. Im Mai 2023 vergaben Banken mit rund 7,6 Milliarden Euro so viele Verbraucherkredite wie noch nie in einem einzigen Monat. Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen stieg im 1. Quartal 2023 um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Außenhandel: Russland lenkt Handelsströme nach Asien um
Russland spielt als Absatzmarkt für EU-Länder nur noch eine untergeordnete Rolle. Im Dezember 2022 entfielen weniger als 1,5 Prozent der Gesamtexporte aus der EU auf das größte Flächenland der Welt. Der deutsch-russische Handel ist weiter rückläufig. Zwischen Januar und April 2023 sank der Handelsumsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 75 Prozent auf rund 5,5 Milliarden Euro, meldet Destatis. Die deutschen Ausfuhren gingen um 42 Prozent zurück. Damit belegt Russland nur noch Rang 28 der wichtigsten Abnehmerländer deutscher Waren. Die Einfuhren aus Russland brachen gar um 87,5 Prozent ein.
Die Verluste auf den europäischen Märkten will Moskau durch verstärkten Handel mit China und Indien ausgleichen. Russland handelte in den ersten vier Monaten des Jahres 2023 mit China Waren im Wert von 73 Milliarden US-Dollar (US$) - plus 41 Prozent. Russische Exporte wuchsen um ein Viertel auf 39,5 Milliarden US$. Im Vorjahr stieg der russisch-chinesische Handel um 29 Prozent auf den Rekordwert von 190 Milliarden US$.
Der russische Warenaustausch mit Indien wuchs zwischen Januar und April 2023 um das Vierfache im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf 21,8 Milliarden US$. Im Jahr 2022 stieg das russisch-indische Handelsvolumen auf 35 Milliarden US$. Russland lieferte vor allem Rohöl.
Außenhandel der Russischen Föderation (in Milliarden US-Dollar; Veränderung in Prozent)
2021 | 2022 | Veränderung 2022/2021 | |
---|---|---|---|
Importe | 293,4 | 264,9 | -9,7 |
Exporte | 491,6 | 444,4 | -9,6 |
Nur noch rund die Hälfte des russischen Außenhandels wird in US$ oder Euro abgewickelt, Tendenz sinkend. Rund ein Drittel aller russischen Exporte wird mittlerweile in Rubel fakturiert. Ein Fünftel wird in Yuan abgewickelt.